21. September 2018
 

SCENARIOdigital – LESEZEICHEN. Eine Kolumne von Jochen Brunow im VDD Journal

Autor: Jochen Brunow 

LESEZEICHEN 1

von Jochen Brunow

„Lesezeichen“ so hieß eine der in jeder Ausgabe wiederkehrenden Rubriken in dem zwischen 2007 und 2016 in Buchform erschienenen Film- und Dreh­buch-Almanach Scenario. Gemeinsam mit Geschäftsführer und Vorstand des VDD arbeite ich daran, Scenario als Gesamtwerk zu digitali­sieren und über diese Website im Netz verfügbar zu machen. Wir beginnen heute mit der Ein­stellung der Werkstattgespräche ins Netz. Damit tragen wir dem Trend Rechnung, dass sich das Lesen vom Trägermedium Buch immer mehr löst. Bei den Gesprächen über aktuelles Leseverhalten und den Gebrauch von gedruck­ten Büchern in unseren digitalen Zeiten einerseits und dem Lesen im Netz andererseits kam mir die Idee zu der heute hier zum ersten Mal erschei­nen­den Kolumne.

Ist es überhaupt noch zeitgemäß ein Buch zu lesen, um die Welt, in der wir heute leben, zu verstehen? Kennt sich nicht derjenige möglicherweise viel besser in ihr aus, der alle Staffeln der neusten Fernsehserien gesehen hat? Verdrängt das horizontale serielle Erzählen den Roman, ersetzen Film und Fernsehen das Buch? Immer mehr Menschen in Deutschland können gar nicht schreiben und lesen. Immer mehr können es nur wenig, beherr­schen die schriftliche Äußerung nur unvollkommen. Aber ist das angesichts der immer rasanter fortschreitenden Bedienung unserer digitalen Werkzeuge durch Sprachsteuerung eine relevante Bedrohung der Kultur? Alexa, was ist das, ein Buch?

Auch mein großer Brockhaus verstaubt in den hintersten Regalen seit es Wikipedia gibt. Und die IMDB ersetzt mir im täglichen Gebrauch die dicken Film­lexika. Und doch könnte ich auf das Lesen von Büchern nicht verzich­ten, es ist für mich im wahrsten Sinne des Wortes ein Lebens­mittel. Und ohne zu lesen, könnte ich auch nicht schreiben, Drehbücher schreiben, Essays oder eine Kolumne wie diese, die sich mit Büchern und was sie auslösen und in mir bewirken, befassen soll.

Es wird in „Lesezeichen“ nicht um Rezensionen im klassischen Sinn gehen, sondern um kurze Stücke über das, was Bücher in der Lage sind, in Autoren auszulösen, um Leseerlebnisse, Gedankensplitter oder Anekdoten im Stil einer Kolumne. Es geht mir generell um den Umgang mit Sprache und mit dem Lesen als Inspiration, als Schule von Anschauungsvermögen und Ein­bildungskraft. Manchmal gibt es vielleicht auch nur kleine Hinweise, als Appetizer, quasi als Trailer für ein Buch. Und natürlich kann dabei auch der eine oder andere digitale Link oder Blog über Film und Drehbuch zum Thema werden.

Dieter Schnass hat in der Wirtschaftswoche Ende Januar eine Grabrede auf das Buch gehalten. Er stützt sich dabei zum einen auf Zahlen. Zu Beginn des Jahres hatte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels seine Statistik vorgestellt: Die Zahl der Buchkäufer ist von 2015 bis Mitte 2017 um rund sechseinhalb Millionen auf 30,2 Millionen gesunken - das ist ein Minus von knapp 20 Prozent. Es bedeutet, dass nicht einmal mehr jeder dritte Deutsche 2017 noch regelmäßig in einem Buch gelesen hat. Und noch weit schlimmer, jeder vierte Deutsche liest überhaupt kei­ne Bücher.

Schnass behauptet, an­spruchsvolle Literatur gehe in der Schwemme der jährlich 90.000 Neuer­schei­nungen, der konfektionierten Krimis, der Koch­buch-Stangenware und Fantasy-Trivialitäten zunehmend unter.

Zugleich belegt er den Abstieg des Buches und die Entwertung der Sprache aber auch durch neueste Forschungsergebnisse. Nachdem er die durch Internet und Smartphones veränderte Aufmerksamkeitsökonomie, die durch nur noch „situative Fokussierung“ ausgehöhlte Konzentration und das ver­hinderte gedankliche Verweilen dargestellt hat, kommt er zu einem interes­santen Schluss: „Von der Fähigkeit zur lesenden Flucht aus der Schnittstelle hängt heute ab, ob wir die Welt überhaupt noch „zu lesen“ vermögen: nicht nur als sich vollziehende Gegenwartstatsache, sondern gleichsam von außen: auch als Raum des Eventuellen, Möglichen, Offenen und Anderen. Das Buch wird zum Fluchtraum. Das Lesen zum Akt des Widerstandes.“

Ich würde selbst vielleicht nicht so weit gehen und das Lesen zu einem Akt der Widerstands zu machen. Aber wie gut, dass es in diesen für das Lesen inzwischen so unsicheren Zeiten ein Buch gibt, in dem auf sehr glaubhafte Weise behauptet wird: „Das Buch wird nicht sterben“. Der berühmte Dreh­buchautor Jean-Claude Carrière und der nicht minder berühmte Semiotiker und Romanautor Umber­to Eco sprechen darin gemeinsam über ihre Leiden­schaft, Bücher zu sam­meln, und über die Bedeutung des Lesens. “Das Buch ist wie der Löffel, der Hammer, das Rad oder die Schere. Sind diese Dinge erst einmal erfunden, lässt sich Besseres nicht mehr machen.“ Verspricht Umberto Eco. Er betrachte Schrift und Buch in gewisser Hinsicht als eine Verlän­ge­rung der Hand. Kino, Radio, Fernsehen und Internet, diese inzwi­schen digital erstellten und übermittelten Medien versteht er da­gegen als nicht biologisch bedingt oder ver­ankert wie das Buch.

Warum beschäftigen mich überhaupt diese Dinge? Als Drehbuchautoren sind wir an der Schnittstelle zwischen Sprache und Bild unterwegs und die Fol­gen der Digitalisierung verändert diesen Übergang, modifizieren ihn in ganz entscheidender Weise. Was hat ein Drehbuch in final draft zuschreiben noch mit dem Vorgang ge­meinsam, die mit einer mechanischen Schreibma­schi­ne getippte Passa­gen auszuschneiden und um zu kleben? So wie ich es zu Beginn meiner Tätigkeit als Drehbuchautor noch musste. Wenn man eine Szene, einen Dialog, einen Beat umstellen will, ist das inzwischen ein ande­rer Vorgang. So wie das digitale Bild nicht mehr zwingend auf etwas einmal real Vorhandenes verweist, so fällt das Gewicht des einmal Ge­schrie­benen im Zuge der Digitalisierung weg. Das ist nicht nur ein Verlust, es macht Vie­les nicht nur einfacher und bequemer, es verflüssigt den Text. Es ist aber eine Veränderung, über die man sich beim Schrei­ben im Klaren sein muss. Es bedarf nun größerer Sensibilität für das drama­tische Gewicht der Figu­ren­­konstellation oder der Bedeutung der Szene im Laufe der Sequenz, sonst fällt die Lo­gik des Handlungsflusses möglicher­weise der Verflüssigung des Schreib­vorgangs zum Opfer.

Jean-Claude Carrière hat mit vielen bekannten Regisseuren, Louis Malle, Milos Foreman, Agnes Varda oder Peter Brook, zusammengearbeitet. Die beiden waren bis zum Tode Bunuels im Jahre 1983 auch befreundet und Carrière schrieb  an der Autobiografie des Regisseurs „Mein letzter Seufzer“ mit. Das ist ein Buch, das es lohnt gerade in unseren Zeiten des flächendeckend vorherrschenden Realismus zu lesen oder wieder zu lesen. So wie ich auch immer wieder „Der Kreis der Lügner“ in die Hand nehme, seine ebenso unterhaltsame wie lehrreiche Sammlung aus Anekdoten, Parabeln und Geschichten aus allen Kulturkreisen der Welt. (In „Scenario “ gab es eine kleine Kostprobe und vielleicht gibt es ja bald hier den dazugehörigen Link.)

Nun hat Carrière den alten Surrealisten in seiner Gruft auf dem Friedhof Montparnasse mit einem Stapel aktueller Zeitungen, Zeitschriften und einer guten Flasche Wein besucht, den Deckel des Sargs gelüftet, um mit dem Verstorbenen in eine Art Totengespräch einzutauchen und den Dialog, den sie für „Mein letzter Seufzer“ vor 30 Jahren geführt haben, weiterzu­ent­wickeln. Wolfram Schütte, der als ehemaliger Filmredakteur der Frank­furter Rundschau selbst an einem Buch über Bunuel mitwirkte, schrieb im Blog „Glanz und Elend“:  „Die dialogische Konstruktion dieses wiederholten Totenge­sprächs erlaubt es, Jean-Claude Carrière gewissermaßen unter der Hand intelligent und skeptisch ironisch alle die nachhaltigen Irrungen und Wirrun­gen unserer letzten Jahrzehnte dem staunenden toten Freund wie auch uns Lesenden vor Augen zu führen - so ähnlich wie die beiden Autoren 1969 in ihrem jokosen  Film „Die Milchstraße“ einen illustrierten Rosenkranz von christlichen Häresien heruntergebetet haben. Will sagen: „Bunuels Er­wa­chen“ gleicht einem literarischen Drehbuch, das sich jeder Leser selbst filmisch inszenieren kann.“ Dieses „literarische Drehbuch“ lehrt uns Leser einen selten gewordenen freien, einen surrealistischen, anarchistischen Blick auf die heutige Welt.

Die digitalen Texte im Internet, auf dem Rechner, Lab Top, airbook oder e-Book nehmen keinen Raum mehr ein. Sie sind auch nicht konkret im Raum vorhanden. Für Leser mit Regalproblemen ist das eine schöne Sache. Aber die Wirkung von momentan ungelesenen Büchern kann durch sie nicht ent­stehen. Sara Stridsberg hat noch Bücherregale, was ihr Erlebnisse und Einblicke ver­schafft, die sie in der neuen Jubiläumsausgabe der Zeitschrift Lettre beschreibt: „Ich denke oft an das Schweigen eines Buches. Einge­zwängt zwischen tausend anderen Büchern im Regal, wirkt es so harmlos und bedeutungslos, so unauffällig und unschuldig. Doch wenn man es öff­net, stürzt man kopfüber in eine Welt voller Stimmen, in unbekannte Räume, in denen man wandeln und sich umschauen kann, ohne gesehen zu wer­den, in denen man sich der Stimme eines Fremden hingeben kann. Eine Er­zählstimme bittet manchmal fast um Verzeihung dafür, dass sie ihren Leser stört, eine Stimme unter Mil­liarden anderer Stimmen auf der Erde, die mit einer solchen Selbstverständ­lichkeit und Autorität auf der Buchseite und im Kopf des Lesers erscheint, dass sie nur aus sich selbst kommen kann.“

Klar, Lettre ist eine Zeitschrift für Bücherleser, die Beiträge, Essays und Ge­dichte sind so fundiert wie lang und erfordern eine gewisse Fokussierung beim Lesen, die normaler Weise Zeitschriften längst an die Kleinteiligkeit der digitalen Be­nachrichtigungen angepasst haben. Diesen Sommer ist das Vierteljahresblatt Dreißig geworden und hat noch eine große Zukunft vor sich, auch wenn es mit seinem Überformat viel zu groß ist für jedes Bücher­regal. 

Aus dem Bücherregal:

Umberto Eco und Jean-Claude Carrière „Die große Zukunft des Buches“  Hanser 2016

Luis Bunuel und Jean-Claude Carrière „Mein letzter Seufzer“ Alexander Verlag 2011

Jean-Claude Carrière „Bunuels Erwachen“ Hanser Verlag 2017

Jean-Claude Carrière „Der Kreis der Lügner: Die Weisheit der Welt in Geschichten“ Alexander Verlag 2013 (diverse andere Ausgaben verschiedener Verlage)

Wolfram Schütte, Peter W. Jansen „Luis Bunuel“ Taschenbuch in der Blauen Reihe Film Nr. 6 Hanser Verlag 1991

Lettre International 121  Sommer 2018

Auf dem Bildschirm:

http://www.wiwo.de/erfolg/trends/tauchsieder-das-buch-eine-grabrede/20895534.html

http://www.glanzundelend.de/Red17/c17/jean-claude-carriere-bunuels-erwachen-schuette.htm   Diese Website bietet die ganze Palette von Feuilletons und sehr interessante Filmkritiken jenseits des Mainstreams. 

Einige der Essays von Scenario kann man bereits jetzt über meine Website erreichen.  www.jochen-brunow.de

 

Die Kolumne LESEZEICHEN erscheint ab jetzt regelmäßig im VDD Journal.

Jochen Brunow ist Gründungs- und Ehrenmitglied des VDD.