Für die unzensierte Kraft der Phantasie. Keynote von Dorothee Schön gehalten, auf dem 30. FernsehFilmFestival Baden-Baden
VDD-Mitglied Dorothee Schön, Autorin der Drehbücher u. a. zahlreicher Filme aus der Reihe TATORT, der Erfolgsserie CHARITÉ sowie des auf dem FernsehFilmfestival Baden-Baden mit dem 3Sat-Zuschauerpreis ausgezeichneten KÄSTNER UND DER KLEINE DIENSTAG, hat am 29.11.2018 in Baden-Baden zur Debatte Fernsehfilm, die unter dem Motto „Abich 100 oder die vertrackten 90 Minuten“, geführt wurde, einen einleitenden Vortrag gesprochen.
Wir veröffentlichen hier den Originaltext Ihrer Keynote - ein Plädoyer für das Fernsehspiel und seine erzählerischen Möglichkeiten, gegen die Herrschaft der Bordwerkzeuge normativer Dramaturgie und dafür, dass in der Stoffentwicklung anstelle der kompetenten Fehlersuche endlich wieder der Fokus auf das Neue und Gelingende gerichtet werden sollte.
"Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Cathrin Ehrlich,
„Abich 100 oder die vertrackten 90 Minuten“ ist der Titel dieser Debatte. Und da geht es schon mal los mit den „fake news“. Es sind in Wahrheit vertrackte 87 Minuten 30. Und damit wären wir eigentlich schon mitten im Thema, nämlich bei der gnadenlosen Normierung des Erzählens im Fernsehen. Aber dazu später mehr. Merken Sie sich bitte das Wort „Normierung“…
Lieber beginne ich mit dem hundertjährigen Geburtstagskind Hans Abich, den ich noch persönlich kennenlernen durfte. Als ich mich 1981 als neunzehnjähriger Grünschnabel an der Münchner Filmhochschule bewarb, saß eine Auswahlkommission vor mir, die aus lauter wohlwollenden alten weißen Männern bestand. Und einer von ihnen war Hans Abich, dessen aufmunterndes Lächeln mir, der hochnervösen Kandidatin, half, das Kolloquium zu überstehen. Hans Abich war damals Studienleiter an der Hochschule. Ich habe bis heute nicht die geringste Ahnung, was seine Aufgabe in dieser Funktion war. Ich würde sie schlicht mit „guter Geist“ umschreiben. Doch wer war dieser gute Geist?
Hans Abich, Jahrgang 1918, war der Sohn eines Bauern in Steinoelsa in der Oberlausitz. Es war ihm also keineswegs in die Wiege gelegt, dass er einmal einer der fähigsten und geistreichsten Köpfe des deutschen Fernsehens werden würde mit dem Spitznamen „Voltaire der ARD“. Als Elfjähriger erkrankte er an Kinderlähmung, deren Folgen ihn für den Rest seines Lebens zeichneten. Seinen wachen Geist hat diese körperliche Einschränkung glücklicherweise nicht gebremst. Im Juni 1945 nahm er mit seinem Studienfreund Rolf Thiele einen 900.000 Mark-Kredit auf und gründete die Filmaufbau GmbH in Göttingen. Was für ein mutiges Unterfangen für einen 27jährigen! Und dann auch noch in Göttingen! Merken Sie sich bitte das Wort „Mut“...
Abich und Thiele produzierten Kinofilme wie „Draußen vor der Tür“, „Nachtwache“, „Wir Wunderkinder“, „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ und die „Buddenbrooks“. 1960 wechselte Abich zu Radio Bremen und baute diesen Sender auf, dessen Intendant er acht Jahre später wurde. Danach wurde er Programmdirektor der ARD, bevor er 1978 in den Unruhestand mit vielen neuen Aufgaben wechselte, u.a. eben besagte Studienleitung an der HFF München und Gründer dieses Fernsehfilm-Festivals hier.
Wie ich 1989 im allerersten Festivaljahr als Jurymitglied unter Abichs Leitung den Fall der Berliner Mauer erlebt habe, habe ich ja schon letztes Jahr zur allgemeinen Erheiterung hier zum Besten gegeben. Heute will ich den Focus darauf legen, was wir alle von einer Persönlichkeit wie Hans Abich für die Gegenwart lernen können.
Für mich waren seine auffälligsten Eigenschaften sein Humor, seine stupende Bildung, seine Neugier und seine Offenheit. Hans Janke, der ehemalige Fernsehspielchef des ZDF, sagte über Abich: „In seiner Gegenwart wurden alle und alles besser.“ Ich kann das nur bestätigen. Er hat uns Filmstudenten vor allem ermutigt und angespornt. Wir haben ihn verehrt. Alle! Und wir wollten gute Filme machen, um ihm zu gefallen. Ich kann mich nicht an eine einzige Rückmeldung von ihm erinnern, die abwertend oder destruktiv war. Heute würde sowas vielleicht unter dem Generalverdacht der Lobhudelei oder schlimmer noch: der Konfliktunfähigkeit stehen. Aber Abich suchte nicht den Fehler in einem Film oder in einem Menschen. Er suchte nach dem Besten in ihm. Und das wollte man ihm dann auch zeigen.
Um zu veranschaulichen, was ich damit meine, möchte ich abschweifen und eine Anekdote über Gregor Piatigorsky erzählen, einem der bedeutendsten Cellisten des zwanzigsten Jahrhunderts. Wer diese Geschichte schon kennt, wohlmöglich aus meinem Mund, der möge mir die Wiederholung verzeihen. Aber im Fernsehen ist die Wiederholung ja eigentlich nicht nur gestattet, sondern ein Ausweis von Qualität.
Also – Pjatigoski: Als junger Musiker war sein großes Vorbild natürlich der geniale Pablo Casals. Eines Tages sollte Piatigorsky bei einem Hauskonzert spielen. Als er erfuhr, dass auch Casals unter den Gästen sein würde, war er natürlich furchtbar nervös. Und als Folge davon spielte er grauenhaft schlecht. Aber das war eigentlich nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war für ihn, dass Casals nach dem Spiel zu ihm kam und ihn lobte. Diese offensichtliche Unaufrichtigkeit schmerzte ihn mehr als alles andere. Denn wenn einer im Raum gehört haben musste, dass sein Spiel schlecht gewesen war, dann war es sicher Casals. Wenn dieser den jungen Piatigorsky danach mit falschem Lob bedachte, konnte das nur bedeuten, dass er ihn offenbar nicht als einen ernstzunehmenden Kollegen betrachtete. Das nagte an Piatigorsky.
Jahre später trafen die beiden wieder aufeinander. Piatigorsky war inzwischen selbst ein berühmter Cellist. Und er erinnerte den alten Casals an das vergeigte Hauskonzert von damals. Wahrscheinlich würde Casals sich kaum an ihn und seinen kümmerlichen Auftritt erinnern, aber er, Piatigorsky, erinnere sich noch sehr genau an das ungerechtfertigte Lob, das ihn so geschmerzt hatte. Als Casals das hörte, wurde er sehr ernst. Natürlich könne er sich an das Konzert erinnern, meinte er. Aber sein Lob sei alles andere als unaufrichtig gewesen. Er erinnerte sich genau an Piatigorskys Spiel und was daran ihm gefallen hatte. Und er sagte: „Nur die Unwissenden urteilen nach der Anzahl der Fehler. Keiner weiß besser als ich, wie schwer das Cellospiel ist. Ich kann daher dankbar sein für eine einzige gut gespielte Note!“
Hans Abich war „mein“ persönlicher Pablo Casals. Er suchte nicht nach den Fehlern, sondern war dankbar für jede einzige gut gespielte Note, bzw. Szene. Er wusste selbst, wie schwer das Filmemachen ist, daher urteilte er nie nach der Anzahl der Fehler. Wie gerne würde ich heute in Projektbesprechungen mehr von diesem Geist spüren - von der Suche nach dem bereits Gelungenen, von dem man sich leiten lässt in unbekannte Gewässer und zu neuen Ufern.
Hans Abich hat gefordert, man solle – so wörtlich – „die Vollkommenheit des Perfekten aufs Abstellgleis schieben“. Er wollte überrascht und herausgefordert werden. Routine war Abich suspekt und er warnte davor, auf das Vorhersehbare und Berechenbare zu setzen. Er glaubte an die Kraft der Phantasie, diesen Motor des Erzählens, der nur unzensiert seine volle Leistung entfaltet.
Und damit wäre ich mitten in der Gegenwart des Fernsehspiels mit seinen vertrackten 87 Minuten 30. Sie erinnern sich: „Normierung“. Sie frisst sich nicht nur formal, sondern auch inhaltlich wie ein Geschwür durch das Programm. Von 80 Millionen Deutschen sind etwa 0,5% Mediziner und 0,3% Polizisten. Im deutschen Fernsehen dagegen bevölkern sie das fiktionale Programm zu gefühlten 99%. Jeder vierte Deutsche hat einen Migrations-hintergrund, jeder zweite ist eine Frau. Warum bildet sich das in den Filmen nicht adäquat ab?
Offenbar fehlt es an Phantasie. Man entscheidet sich für das, was man bereits kennt, was früher bereits erfolgreich war. Seit über drei Jahrzehnten bin ich nun schon Drehbuchautorin, und ich muss Ihnen leider berichten, dass die normativen Forderungen in den Drehbuch-besprechungen Jahr für Jahr massiver werden. Jeder scheint zu wissen, dass es immer eine starke weibliche Hauptfigur unter 30 Jahren braucht oder dass die Leiche bei einem Krimi spätestens nach 5 Minuten auftauchen muss. Jeder am Tisch packt als erstes sein Bordwerkzeug der normativen Dramaturgie aus, nach der jeder Stoff in eine Einheitsdramatik gezwirbelt wird, die am Ende so routiniert und glatt daherkommt, dass der Zuschauer schon nach Minute drei weiß, wie die Sache ausgehen wird.
Das deutsche Fernsehspiel ist so ein tadelloses Programm geworden, das allerdings der Zuschauer nicht mehr wirklich zu brauchen scheint und die Branche selbst es nicht mehr als den Goldstandard des Fernsehens begreift. Ich glaube, es fehlt an den Abich-Tugenden Mut, Humor, Bildung, Offenheit und Neugier. Warum? Sicherlich nicht weil die aktuelle Generation der Filmschaffenden weniger kreativ ist als ihre Vorgänger. Doch wir leben in einem durchgegängelten System von Programmentscheidungen, in der - wie in einer Matroschka-Puppe - in dem Producer der Produzent der Redakteur der Fernsehspielchef der Programmdirektor die Gemeinschaftsredaktion und vor allem die QuoteQuoteQuote steckt. Selbst wenn die Genannten gar nicht alle mit am Tisch sitzen – sie sitzen in den Köpfen der Anwesenden. Es gibt heutzutage nicht nur das Phänomen der Helicopter-Eltern, sondern auch das der Helicopter-Redakteure und -Produzenten, die immer und in jeder Phase die volle Kontrolle über die filmische Erzählung haben wollen. Und das Ergebnis: Angst essen Phantasie auf.
Dabei wäre das Fernsehspiel so wichtig wie nie. Es kann in seiner kürzeren Form viel mehr wagen. Es muss weniger auf Konsens setzen, kann provozieren, experimentieren und in Frage stellen. Und ich meine das vor allem Erzählerisch, denn in der Gestaltung haben unsere Filme durchaus internationales Niveau. Wir stärken das Fernsehspiel nicht, indem wir nach der Serie schielen, auch nicht hier auf dem Festival. Man stärkt auch die Lyrik nicht, indem man Krimilesungen organisiert - es sei denn, die Krimis wären gereimt.
In Zeiten wie diesen, da der gesellschaftliche Diskurs immer undifferenzierter, humorloser und angstgetriebener geführt wird, ist das risikofreudige Fernsehspiel wichtiger denn je. Es kann schneller als jede High-End-Serie gesellschaftliche Diskurse aufgreifen. Es kann vielfältiger sein, überraschender, phantastischer, unberechenbarer. Meine Botschaft an alle Programmverantwortlichen hier im Saal und auf dem Podium: Schenken Sie den Kreativen mehr Vertrauen und mehr Freiheit. Hören Sie auf, Fehler zu suchen. Spornen Sie uns an durch Ihre Offenheit und Neugier. Ihre menschlichen Tugenden sind es, die uns zu Höchstleistungen antreiben, nicht besserwisserische Fachkompetenz. Mit anderen Worten: Nehmen Sie sich Hans Abich zum Vorbild. - Danke."
Wir haben zu danken. Herzlicher Dank an Dorothee Schön für diese starke Rede!