„Perfect match“ mit dem Zuschauer - Rede von Sebastian Andrae zur Verleihung des Deutschen Drehbuchpreis 2019
Deutscher Drehbuchpreis 2019
Moderationstext von Drehbuchautor (Deutscher Fernsehpreis für "Magda macht das schon") und geschäftsführendem VDD-Vorstand Sebastian Andrae
LESEFASSUNG
„Guten Abend. Ich hätte gern etwas mehr Zeit gehabt für diese Rede – über das Kino, warum das Kino so großartig ist und warum wir den Kinofilm so dringend brauchen. Ich hätte mir wirklich gern mehr Zeit genommen ... aber es gab so viel auf Netflix zu sehen. Herzlich willkommen zum Deutschen Drehbuchpreis 2019 oder wie ich ihn nenne: die LOLA, die lesen kann.
Sehr geehrte Frau Staatsministerin, liebe Monika Grütters, liebe Frau Staatssekretärin Raab, werte Kolleginnen, Kollegen und Gäste, das Kino hat Konkurrenz bekommen. Und Konkurrenz belebt nicht nur das Geschäft, sie kann das Geschäft auch gefährden. Schon einmal musste sich das Kino quasi neu erfinden, um die Zuschauer aus den Wohnzimmern zurückzuholen: zunächst mit Wagenrennen auf der ganz großen Leinwand in den knalligsten Farben, dann mit einer neuen Erzählweise, die den Nerv der 60er und 70er Jahre und vor allem von jenen traf, die sich in massenkompatiblen Unterhaltungs-programmen nicht zu Hause fühlten. Vielleicht brauchen wir das heute wieder: eine Neuerfindung der Kinoerzählung.
Und nachdem ich eine derartige Last auf ihren Schultern abgelegt habe, bitte ich unsere Nominierten kurz aufzustehen und dieselbe fröhlich abzuwerfen. Denn das ist unser Schicksal als Erzähler: Wir erfinden. Jeden Tag und immer von neuem. JULIAN RADLMAIER hat mit „BLUTSAUGER“ eine sarkastische Komödie über das Kino erfunden: In der Klassengesellschaft bleibt nur der am Leben, der die Gesetze der Untoten befolgt. Ich habe das „Aufstehen“ eben nicht im Sinne von Sarah Wagenknecht gemeint, Sie können sich wieder setzen. KAREN KÖHLER und MICHAEL VENUS haben einen modernen Western kreiert: „COWBOY UND INDIANER“ ist eine Rettungsgeschichte auf Gegenseitigkeit und spielt im Death Valley, und man hat mir versichert, dass das kein Kommentar zu den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen ist. HANNES HELD und LISA BIERWIRTH erzählen in „LE PRINCE“ den Culture Clash zwischen Kulturelite und Kongo. Und es gibt zum Glück noch Love Stories, die nicht von Algorithmen ausgerechnet wurden ...
Mein Name ist Sebastian Andrae, und was ich hier heute Abend mache, lässt sich am besten mit einem Dialog des großen Berliner Kollegen Ernst Lubitsch beschreiben, aus „Trouble in Paradise“:
„Ich durchschaue alle Ihre Tricks.“ - „Mag sein, aber Sie fallen trotzdem auf alle rein.“ Fallen wir gemeinsam! Denn Kino ist immer auch Zauberkunst. Ich lasse aber niemanden verschwinden, stattdessen bitte ich gleich Frau Staatssekretärin Heike Raab auf die Bühne. Und wenn wir am Ende der Zeremonie das Tuch wegziehen und den Preisträger oder die Preisträgerin enthüllen – oder beide? -, dann verspüren wir hoffentlich alle die Magie, die immer noch von diesem dunklen Raum mit den hellen Träumen ausgeht, die wir Kino nennen. Ein bisschen Suspense … und viel Vergnügen!
„Ich dachte, Drama ist, wenn die Schauspieler weinen. Aber Drama ist, wenn das Publikum weint“, erkannte Frank Capra. Aber wie bringen wir ein Publikum zum Weinen, das während der Vorführung whatsAppt? Das ist die neue Lightshow: Im Kino gehen die Lichter aus, und die Handys bleiben an. Erst vier Reihen vor Ihnen, rechts, Sie können es nicht genau erkennen, vermutlich checkt der Typ gerade Börsenkurse und zugegeben, die Volkswagen-Aktie hat mehr Plot Points als die meisten Thriller. Drei Reihen weiter, links, die beiden im Love Seat, chatten die gerade miteinander? Vielleicht die moderne Form der Rücksichtnahme: wenigstens unterhalten sie sich nicht laut. Das Kino ist übrigens nicht die einzige Kunstform, die vom „second screen“ betroffen ist - in der h-moll-Messe von Bach, im Eingangschor, geht vor mir eine Handykamera hoch, und ich dachte, danke Mann, Du hast jetzt dieses Werk für die Nachwelt gerettet!
Drehbuchschreiber in den Zeiten des Internets sind neuen Heraus-forderungen ausgesetzt. Warum, fragt sich die junge Generation, soll ich offenbar handlungsbeschränkten Menschen 90 Minuten bei ihrem Ringen um zwei Lösungen zuschauen, wenn ich mich in zwei Minuten durch 90 Lösungen tindern kann? In Hollywood scheint der Liebesfilm ohnehin auf dem Rückzug – Superhelden, die sich einen langen feuchten Filmkuss geben, will niemand sehen. Man vertraut den echten Superkräften nicht mehr. Wie nannte man die früher noch mal? Ach ja, Gefühle.
Wenn der Computer im echten Leben, das sich zunehmend virtuell anfühlt, ausrechnet, wer Dein perfect match ist – dann bleibt dem Kino doch nur, die Flucht vor dieser angeblichen Perfektion zu organisieren. Den Mut zum Unpassenden zu wecken. Woher soll sonst der Konflikt kommen, um den sich beim Schreiben alles dreht? Und im Leben übrigens auch. Natürlich überlegen sich Filmemacher und Produzenten, wie sie auf das digitale Dauerfeuer reagieren können. Vielleicht durch Verzicht aufs Drehbuch? Der improvisierte Film: Die Antwort des Kinos auf das Handyvideo. Ich muss Ihnen sagen, improvisierte Filme werden vor allem von den Leuten in der Branche gehyped, die ihren Lebensunterhalt nicht improvisieren müssen …
Oder fesseln wir die Klicksüchtigen durch den interaktiven Film? Die Zuschauer entscheiden, wie es weitergeht, greifen in die Handlung ein. Ich spreche nicht von Fernsehredakteuren. Aber mich hat die Idee vom interaktiven Film nie gereizt. Euer Ernst? – ich soll Margot Robie und Chris Hemsworth zu ihrem ersten Date verhelfen? Erinnert mich an schiefgelaufene Schulparties und das finale Angebot, die Schulter zum Ausweinen sein zu dürfen. Strengt Euch mal ein bisschen an, Leute! Ihr seid „perfect match“! Sieht doch jeder! Ich soll Tom Cruise sagen, welchen Draht der Bombe er durchschneiden soll, den roten oder den grünen? Es gibt Tage, an denen ich zwei verschiedenfarbige Socken anziehe und es nicht mal merke. Ich soll Bruce Willis dabei unterstützen, die Russenmafia auszuradieren? Ich hab ja noch nicht mal meiner russischen Freundin widersprochen, als sie in den Film mit Chris Hemsworth wollte! Vielleicht wäre das ein neuer Slogan für unseren Verband: „Drehbuchautoren – damit Sie nicht auch noch im Kino unter Entscheidungsstress geraten!“
„Perfect match“ mit dem Zuschauer, genau wissen, wie er tickt und was er will – das scheint bei den Streamingdiensten Wirklichkeit zu werden. Inzwischen sind netflix und amazon mächtige Studios mit scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, und es ist durchaus nicht klar, ob zum Wohl oder Wehe des Kinos. Wenn nicht mal Martin Scorsese das weiß, dessen letzter Film „The Irishman“ ohne netflix nicht zustande gekommen wäre – wenn der netflix-Film „Roma“ Oscar-Favorit ist - wer bin ich, das zu entscheiden? Ich entscheide nicht. Ich wische weiter.
Klar ist, dass sich alles verändert. Auch das Drehbuchschreiben. Und die Erwartungshaltung der Zuschauer. Wenn Sie vor zehn Jahren auf einer Party gesagt hätten, Sie schwärmen fürs horizontale Erzählen, dann hätten Sie in skeptische Gesichter geschaut: Aha, Pornofan mit Hochschulabschluss. Heute weiß jeder, was damit gemeint ist. Der Zuschauer ist rundum informiert und anspruchsvoller geworden. Halten wir damit Schritt? Erzählen wir raffiniert und überraschend genug? „Zu schreiben bedeutet zu teilen“, sagt der Schriftsteller mit der größten Fangemeinde in den sozialen Netzwerken, Paulho Coelho. „Es gehört zum Menschsein, Dinge teilen zu wollen – Gedanken, Ideen, Meinungen.“ Das heißt, Autoren müssten eigentlich gut vorbereitet sein auf die Sharing-Kultur. Aber kennen wir unser Publikum gut genug? Hier, die Kollegin in der ersten Reihe guckt ganz erschrocken: Publikum?? Ja, Schreiben ist ein einsamer Job, die meiste Zeit sind wir mit uns alleine, aber da draußen warten Menschen auf unsere Geschichten. Der Kollege daneben nimmt sich gerade vor, bei seinem nächsten Cafébesuch einfach mal der Hübschen am Nebentisch was aus seinem Drehbuch vorzulesen. Mach ich auch manchmal. Feedback gibt’s immer. Für eine Romantic Comedy reicht es meistens nicht.
Klar ist doch: die Superkraft von netflix und Co sind stark entwickelte Stories! Gute Drehbücher brauchen Entwicklungszeit. Entwicklungszeit kostet Geld. Die FFA hat eine große Umfrage gestartet zur Finanzlage der Kino-Produktionsfirmen, und die Hälfte der Produzenten hat die Kugelschreiber mitgehen lassen, mit denen sie den Fragebogen ausfüllen sollten. Kinoproduzenten sind in Deutschland unterfinanziert, obwohl eigentlich viel Geld da ist, Entwicklungszeit für Drehbücher ist unterfinanziert. Denn wir Autorinnen und Autoren müssen tatsächlich ständig auswählen, welches die richtige Richtung für unsere Geschichte ist und welches die best- oder schlimmstmögliche Wendung und das braucht Zeit. Der heutige Abend trägt dem Rechnung, indem er Autorinnen und Autoren in der schwierigsten Phase unterstützt, die es für uns gibt: die Phase vor der Eröffnung des Buffets.
Aber vielleicht ist ja auch alles viel einfacher und es gibt schlichtere Lösungen, um das Kino wieder zu einem attraktiveren Ort zu machen. Hier kommen meine beiden Vorschläge: Geruchlose Nacho-Sauce … und Bier ohne Kohlensäure. Das wird die Atmosphäre nachhaltig verbessern. Groucho Marx wurde nach einer Broadway-Aufführung nach seiner Meinung gefragt. „Ich mochte das Stück nicht“, sagte er, „aber ich habe es auch unter ungünstigen Bedingungen gesehen. Der Vorhang war oben.“ Unser Vorhang BLEIBT oben für unseren Laudator Gernot Gricksch und für ein Drehbuch, das es verdient hat …
Wir haben erwogen, ob der / die Preisträger(in) seine Dankesrede twittern darf, wir haben uns dagegen entschieden. Das gesprochene Wort bleibt auch im 21. Jahrhundert eine Alternative, besonders, wenn man was zu sagen hat, was auf twitter ja nicht durchgehend der Fall ist. Live und nicht gefotoshopped, wenn auch vielleicht etwas blass vor Überraschung: Julian Radlmaier, unser Drehbuchpreisträger 2019!
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„Die Autorin kommt empört zum Produzenten: „Ich hab gestern die sogenannte Regiefassung gelesen – die hat ja überhaupt nichts mehr mit meinen Drehbuch zu tun! In den Dialogen wurde rumgeschmiert und die Charaktere verhalten sich überhaupt nicht mehr folgerichtig, wie ich sie erfunden habe, und der dritte Akt wurde vollkommen dem Effekt geopfert!“ - „Oh, das hätte natürlich nicht passieren dürfen“, sagt der Produzent ganz betroffen, „Sie sollten die Fassung ja gar nicht lesen.“
Bild: Moderator und gf. VDD-Vorstand Sebastian Andrae, (C) VDD, Foto: André Hercher
Zwei Themen haben uns im zurückliegenden Jahr umgetrieben: die Mitsprache und Teilhabe von Autorinnen und Autoren am filmischen Prozess, die unsere Filmen und Serien so viel besser macht – wie sie im Kontrakt 18 mit großem Echo gefordert wurde. Und der politische Druck auf schreibende Kolleginnen und Kollegen in aller Welt, inzwischen auch wieder in Europa, den unsere Weltkonferenz der Drehbuchautoren im Oktober uns nachdrücklich vor Augen geführt hat. Schreiben in Freiheit, Freiheit für das Schreiben ist keine Selbstverständlichkeit. Sie muss erkämpft werden, sie muss verteidigt werden, sie muss aber auch genutzt werden, um für andere einzustehen, denen diese Freiheit nicht mehr gewährt wird.
Wir hatten brasilianische Kolleginnen zu Gast – niemand weiß, ob sich Brasilien mit seiner großen Fernsehindustrie zu einer Diktatur entwickelt. Wir hatten polnische Kollegen zu Gast – gleich hinter unserer Grenze schickt sich die Regierung an, die gesamte Filmwirtschaft einer zentralen Steuerung zu unterwerfen. Heute Abend in dieser mehrfach befreiten Stadt einen Preis für gutes Schreiben mit einer amtierenden Staatsministerin verleihen zu können, ohne Direktiven aus dem Ministerium hinnehmen zu müssen, ist ein Privileg. Nutzen wir es! Autorinnen und Autoren müssen lauter werden! Nicht nur gegen Regiefassungen, die manchmal wenig mehr sind als überbezahlte Orthografiefehler.
Warum ist es eigentlich schwerer umzuschreiben als neu zu erfinden? Vielleicht ist es ein bisschen wie bei der Kinder-erziehung – die wahre Arbeit beginnt, nachdem man sie in die Welt gesetzt hat. Wir wollen sie formen, aber sie haben schon eine Form. Sie setzen Dir eine eigene Sicht auf die Welt entgegen, und plötzlich bist Du es, der sich verändern muss. Wir Autorinnen und Autoren, die wir täglich unsere Kinder, unsere Bücher auf die Welt da draußen vorbereiten, wir sind gezwungen hinzuschauen, was sich verändert – und deswegen ist es eine gute Idee für die Branche, auf uns zu hören. Wenn meine Töchter heute Abend hier wären, würden sie wahrscheinlich auch dieser Metapher widersprechen, aber so geht die einfach mal glatt durch, hoffe ich mal.
Widerspruch schärft das Bewusstsein; wir dürfen es jetzt kollektiv ein wenig eintrüben. Ich darf in den entspannten Teil des Abends überleiten – genießen Sie ihn in vollen Zügen, oder um es mit den Worten des großen Dean Martin zu sagen: „You're not drunk if you can lie on the floor without holding on.“ Halten Sie sich fest, aber fragen Sie vorher! Verbringen Sie den Abend mit Menschen, die wunderbare Dinge aus 26 Buchstaben zaubern können – wir machen hier oben jetzt noch ein paar fancy Fotos für die Insta-Accounts von BKM und VDD – das war der deutsche Drehbuchpreis 2019!
Herzlichen Glückwunsch den Preisträgern, eine fulminante Feier, eine erfolgreiche Berlinale und bis gleich an der Bar!“
Der VDD sagt: Herzlichen Dank an Sebastian Andrae für viele Jahre großartiger und unterhaltsamer Moderation! That's Entertainment!