SCENARIOdigital. Leben Erzählen Lieben. Ein Werkstattgespräch mit Michael Gutmann
Das folgende Werstattgespräch erschien 2010 im Band SCENARIO 4 im Bertz + Fischer-Verlag als Publikation der Carl-Meyer Gesellschaft und gefördert vom BKM, hrsg. von Jochen Brunow. Unter dem Label SCENARIOdigital wird der VDD weitere Werkstattgespräche und Essays aus dem Drehbuch-Allmanach Scenario veröffentlichen - mit freundlicher Genehmigung des Bertz + Fischer Verlags.
VDD-Mitglied Michael Gutmann ist Drehbuchautor, Regisseur und Professor für Drehbuch an der HFF München. Als Autor hat er unter anderem zusammen mit dem Regisseur und Autor Hans-Christian Schmid die Bücher zu den Kinofilmen "Nach Fünf im Urwald", "23- Nichts ist wie es scheint", "Crazy" und "Lichter" geschrieben und neben zahlreichen Regiearbeiten (u.a. TATORT) die Biografie von Marcel Reich-Ranicki "Meine Leben" erfolgreich fürs Fernsehen adaptiert. Im Werkstattgespräch erläutert er seine ersten Gehversuche als Comiczeichner, die Bedeutung der Shortstory für das Schreiben, von Musik und Licht für die Inszenierung und fodert eine autorenfreundliche Kommunikation in der Stoffentwicklung.
Im folgenden Abschnitt geht es um die Krisen des Drehbuchs und des Geschichtenerzählens in den 80er-Jahren, aus denen ein neues Bewusstsein für das Handwerk des Drehbuchschreibens hervorgegangen ist, aber auch das Phänomen des Zurichtens von Drehbüchern durch Produktiopn, Regie und Redaktion zunimmt:
Zu den Zeiten wurde auch viel von der Krise des Drehbuchs gesprochen, das Erzählen stand nicht besonders hoch im Kurs.
Ich bekomme diesen berühmten Satz von Wenders nicht mehr wörtlich zusammen, aber er verkündete auf einer dieser medienkritischen Diskussionen »das Ende der Geschichten«. Da wurdenpersönliche Haltungen kostümiert, als gäbe es keine Geschichten mehr. Ich halte das für Blödsinn, Erzählen ist für uns lebensnotwendig, so wie Essen und Atmen. Das Problem ist doch eher, wie man spannend erzählt.
Wenders hat diese Haltung auch selbst gar nicht eingelöst. DER STAND DER DINGE war der Film, mit dem er diese Haltung vom Ende der Geschichtendemonstrieren wollte. Aber natürlich erzählt dieser Film, und es gibt ein höchst dramatisches Ende, wenn sein Alter Ego, der Regisseur Friedrich, auf den Straßen von Los Angeles erschossen wird. Wenders hat in einem Interview mit mir auch selbst zugegeben, dass der Film seine eigene These widerlegt.
DER STAND DER DINGE bewegt sich im durchaus bekannten Genre des Künstlerfilms und macht das sehr gut. Jedenfalls hat die Erzählkrise dazu geführt, dass 1983, 1984 die ersten Drehbuchseminare nach Deutschland kamen. Einer der Ersten war Frank Daniel, der tschechische Amerikaner. Zuerst war überall nur Kritik daran zu hören, denn es herrschte noch die Vorstellung, ein Drehbuch entstehe in einem undurchschaubaren künstlerischen Schaffensvorgang. Das hat sich heute komplett gedreht.
Es herrscht inzwischen die Gegenposition von der absoluten Zurichtbarkeit von Geschichten. Was man sich da von Redakteuren oder Producern sagen lassen muss, die mal irgendein Manual gelesen haben oder einen Kurs besucht haben, das geht zum Teil auf keine Kuhhaut.
Es wird inzwischen ein fürchterliches Fachchinesisch gesprochen, und selbst Leute, die nie ein Drehbuch schreiben könnten, dürfen mitdiskutieren. Wir Filmstudenten hatten damals sehr viel mehr Freiheit. Die Autonomie war allerdings auch ein Fluch, denn man war als Student nicht an dem Punkt von Herzog, Wenders oder Fassbinder. Man hat dringend Anleitung gebraucht. Wir fragten uns verzweifelt, wie spiele ich Gitarre, wie kann ich diesen Akkord besser greifen, damit das schöner klingt. Bei einer akustischen Gitarre klingt das B scheußlich, stimmen wir die tiefste Saite, die E-Saite, herunter auf D, und spielen wir noch mal den B-Akkord, dann klingt es super. Das darf man? Wir kannten einfach die Tricks nicht und sind dadurch in viele literarische Fallen getappt. Heute nenne ich das »Drehbuchprosa«. Es sind all die Texte, die sich nicht wirklich mit einer Kamera zeigen lassen.
Sie waren also auch in den Seminaren von Frank Daniel und seinen Gehilfen, David Howard, Don Bohlinger und Daniels Sohn Martin?
Das war die echte handwerkliche Initialzündung. Man sitzt in einer Werkstatt, und jemand erklärt, wie man einen Tisch baut. Da geht es nicht um Kunst oder um die These, es gebe keine Geschichten mehr, es geht nicht darum, was ist politisch korrekt und was ist links, es geht nicht um diesen ganzen kontaminierten Boden, sondern wir reden wie Schreiner über unsere Arbeit. Wir spürten, da waren Leute aus der Praxis am Werk, die haben nicht herumtheoretisiert. Frank Daniel war ein großartiger Stoffentwickler, wir liebten seinen Unterricht. Ich weiß nicht, ob er selbst jemals ein Drehbuch geschrieben hat.
Er hat in der Tschechoslowakei die Prager Filmschule geleitet und in dieser Funktion als Produzent einen Oscar bekommen für THE SHOP ON MAIN STREET. Er hat, nachdem er mit Milos Forman zusammen in die USA ausgewandert ist, ein bisschen diesen Kontakt zum Filmemachen verloren. Er hat für Robert Redford Sundance mit aufgebaut, das zu Beginn eine Art Sommercamp für ausgewählte Filmstudenten war. In den USA hat Frank vor allen Dingen unterrichtet und nicht produzieren können. Er hat mir malerzählt, dass er das sehr bedauert; und wenn er in ein Studio kommt, ihm der spezifi sche Geruch dort beinahe die Tränen in die Augen treibt, weil er das konkrete Filmemachen vermisst.
Frank und seine Leute haben uns damals klargemacht, dass Szenen wie Bausteine sind, oder Farben und Formen, und dass man Dinge gestaltet, indem man sie anders miteinander anordnet. Sie haben gezeigt, wie man Personen und Szenen so aufeinanderstoßen lässt, dass ein Klang entsteht. Es ist ein Unterschied, ob ich Rot und Orange nebeneinandersetze oder Rot und Grün, weil Rot und Grün Komplementärfarben sind. Das ganze Denken von Frank Daniel und seinen Leute war komplementär, also zutiefst dramatisch. Er hat uns die Angst vor dem Wort »dramatisch« genommen, das damals in einem schlechten Ruf stand.
»Contrast makes sense« ist der Satz, den Frank immer wiederholte und den ich nie vergessen werde.
Das ist genau das Prinzip, der Zuschauer nimmt Bewegung wahr, weil vorher Stillstand zu sehen war, oder er registriert eine Veränderung, weil sich vorher etwas nicht verändern durfte. Man nimmt Leises wahr, weil Lautes war. Die Idee kommt von der klassischen Tragödie und vom Shakespeare-Theater, sie hat sich dann rübergerettet bis in den Unterhaltungsroman und auch in den Film. Es ist interessant, wie schwer es uns Seminarteilnehmern zu Beginn fi el, das zu verstehen. Leute haben sich den Kopf zerbrochen, ob das mit der Nazizeit zu tun hat und dem großen Verlust von kultureller Energie, oder ob es vielleicht typisch deutsch ist, gedankenvoll und innerlich zu schreiben anstatt handlungsorientiert.
Es war wohl eher ein europäisches Phänomen. Die ersten Reisen, die Frank nach Europa gemacht hat, haben die Belgier organisiert, das Flemish European Media Institute. Ich konnte seinen Unterricht und seine Methodik annehmen, als ich merkte, dass hier nicht das mechanische Bauklotzprinzpip à la Syd Field propagiert wurde, das, wie ich fand, vollkommen zu Recht in der Kritik stand. Franks Vorgehensweise basierte im Grunde genommen auf einer europäischen Erfahrung. Ich habe keinen Autor oder Lehrer erlebt, der eine solch profunde Kenntnis der alten europäischen Literatur und Dramatik hatte. Später habe ich erst verstanden, warum er immer gesagt hat, er wird niemals ein Buch darüber schreiben. Von ihm gibt es keine schriftlichen Äußerung außer Mitschnitten seiner Reden und das Buch über seine Methode, das David Howard nach seinem Tod geschrieben hat. Frank hat immer betont, Drehbuch zu unterrichten sei eine »one to one situation«, es gehe nur um Lehrer und Schüler. Auch dieses Verständnis vom Verhältnis Lehrer – Schüler hat mich stark beeindruckt, diese Art und Weise, mit der er auf jedes individuelle Projekt bei seinen Analysen eingegangen ist.
Bei uns war das Reden über ein Drehbuch, das Entwickeln und Entfalten eines Stoffes im Gespräch – auch über den Disput –, total unterentwickelt. Das Entscheidende sind gar nicht so sehr die Lehrinhalte.
Man kann Aristoteles lesen oder Lajos Egri, Gustav Freytag oder andere. Entscheidend ist, wie damit umgegangen wird. Man kann Drehbuch nicht unterrichten wie Physik. Es geht nicht darum, Regeln und Gewissheiten zu verbreiten, denn jede Drehbuch-Regel führt irgendwann auch wieder zu einer Vorhersehbarkeit. Die Zuschauer durchschauen das und langweilen sich.
Es hat sich aus den Anfängen um Frank Daniel eine Welle von Dramaturgien und von Manuals entwickelt. Es kamen Linda Seger, Robert McKee, Christopher Vogler, um nur die wichtigsten zu nennen. Beeinflussen diese Dramaturgien Ihre Arbeit?
Ich habe vor vielen Jahren in Hamburg an einer Lecture von McKee teilgenommen. Das hatte sehr stark Entertainment-Charakter. Und genau wie heute hat er damals schon die Leute, die in seiner Lecture Fragen gestellt haben oder ihn unterbrochen haben, scharf zurückgewiesenoder gedroht, sie rauszuwerfen. Frank Daniel war seinem eigenen Verständnis nach ein Partner und Pädagoge, der möchte, dass man selber laufen lernt. Er hatte etwas von einem Zen-Lehrer. McKees Vorträge sind dramaturgisch gut gebaut, wenn die Veranstaltung um 17 Uhr zu Ende sein soll, kommt pünktlich um 16 Uhr 58 die brillante Schlusspointe. Das Phänomen Robert McKee ist treffend dargestellt in dem Artikel The Real McKee, nachzulesen auf der Internet-Seite des New Yorker. Für mich hat sein Buch Story trotz aller Einwände eine Bedeutung, gerade weil es so vorlesungshaft ist.
Er hat schon eine analytische Kraft.
Er hat seine Texte oft überarbeitet und seinen ganzen Ehrgeiz in klare Formulierungen gelegt. Das ist die Stärke. Die Wichtigkeit eines Erzählkerns hat mir bei ihm zum ersten Mal eingeleuchtet. Er nennt das controlling idea. Aber das steht so im Grunde schon bei Lajos Egri, da hat McKee es vermutlich her.
Die neueren amerikanischen Dramaturgien versuchen, der Entwicklung des aktuellen Films entsprechend, sich auch zu öffnen, zu verändern. Es gibt diesen Paradigmenwechsel hin zu so etwas wie einer New School, den Versuch, eher wie im Literarischen von den Figuren auszugehen und nicht so sehr von plotorientierten Strukturen. Spielt das für Sie – verkörpert von jemandem wie Laurie Hutzler mit ihrer Emotional Toolbox – eine Rolle?
Es ist eine Rückkehr zu den freien Erzählformen der 1950er und 1960er Jahre des letzten Jahrhunderts. Die tschechischen Filme von Milos Forman sind character driven, so wie die schwarzweißen Fellini-Filme oder bestimmte Filme des New British Cinema. Die Filme von John Cassavetes sind ebenfalls sehr wichtige Vorbilder dieser New-School-Bewegung. Gut fi nde ich an deren Überlegungen, dass durch sie die Debatte aufrechterhalten wird. Aber je dünner diese Bücher sind, desto besser, damit man noch die Zeit zum Schreiben hat. Im Grunde denke ich: »Machen Sie doch, was Sie wollen, aber bitte nichtlangweilen.« In diesem Satz steckt die Aufforderung: »Schaffen Sie eine faszinierende Figur.« Bei Frank Daniel hieß das: »Extraordinary people in a extraordinary situation, or one of both.« Es scheint ein Kennzeichen von jedem interessanten Film zu sein, dass jemand unter einer Zerreißprobe steht. Die neuen Konzepte, von denen Sie sprechen, sagen, es ist völlig egal, ob man acht Sequenzen und drei Akte hat, wenn man nur diese spannungsgeladene Hauptfigur findet.
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Das Werkstattgespräch in voller Länge finden Sie weiter unten im Anhang.
Wir danken unserem Gründungs- und Ehrenmitglied Jochen Brunow für seinen Einsatz für die Veröffentlichung sowie dem Verlag Bertz + Fischer für die freundliche Unterstützung!
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