21. Juni 2019
 

SCENARIOdigital - LESEZEICHEN. Ausgabe 4 der Kolumne von Jochen Brunow

Autor: Jochen Brunow 

LESEZEICHEN 4

von Jochen Brunow

„Lesezeichen“ so hieß eine der in jeder Ausgabe wiederkehrenden Rubriken in dem zwischen 2007 und 2016 in Buchform erschienenen Film- und Dreh­buch-Almanach Scenario. VDD-Gründungs und-Ehrenmitglied Jochen Brunow hat die Rubrik in Form einer Kolumne im VDD Journal wieder aufgenommen. Wir veröffentlichen hier die vierte Ausgabe.

Jochen Brunows viertes Lesezeichen  spannt einen Bogen von  der Neurowissenschaft als Inspirationsquelle für das Drehbuchschreiben, über das Verhältnis zwischen DEFA-Küche und Toast Hawaii bis hin zu Woody Allens nicht-veröffentlichter Biographie und dem Jubiläum des Verlags der Autoren. Im Wissen, dass Leben, Erinnerung und Erzählen untrennbar miteinander verbunden sind.

 

Die Strecke auf meinem Bücherboard mit Werken zum Drehbuchschreiben ist im Laufe der Jahre ziemlich lang geworden. Immer noch ist der Ausstoß an derartigen Büchern groß und spült ungebrochen auf den Markt, der sich offensichtlich immer noch dafür findet. Ich hatte mir schon vor einiger Zeit fest vorge­nommen, keine mehr zu kaufen. Aber dann stolperte ich im Netz über „The Science of Screenwriting / The Neuroscience behind Storytelling Strategies“ von Paul Josep Gulino und Connie Shears. Im virtuellen Raum kann man eigentlich nicht stolpern, aber einmal auf der Website des Buches ge­landet, konnte ich nicht wiederstehen, das im Bloomsbury Verlag erschienene Werk zu bestellen. Wie die aktuellen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse sich zum Erzählen mit und in Bildern verhalten, befeuerte einfach zu sehr meine Neugierde.

 

„Contrast makes sense“, hatte schon mein Lehrer Frank Daniel uns immer wieder er­mahnt. In diesem Buch erfahre ich nun, warum Kontrast so wichtig ist, auf welchen Wahrnehmungsgrundlagen und welchen neurologischen Gegebenheiten unseres Ge­hirns diese Aussage beruht. Natürlich habe ich eine Vorstellung davon, wie eine Ellipse funktioniert, also wie Auslassungen vom Zuschauer interpoliert werden. Aber nachdem mir präzise vorgestellt wurde, wie durch unvollständige Information unwider­stehliche Reflexe im Gehirn ausgelöst werden, erscheinen mir plötzlich völlig neue Mög­lichkeiten für Auslassungen oder unvollständige Informationen im Gestaltungsprozess möglich. Ein Vorgang, der Nonvolitional Process genannt wird, sorgt dafür, dass unser Gehirn Reize unzusam­menhängend aufnimmt und automatisch vollkommen unbewusst immer zu einem komplexeren Bild zusammensetzt.  Das geht hinunter bis in die kleineste Bildwahrnehmung. Unser Auge bevorzugt alles, was nicht einförmig ist. Beinahe wie bei einem impressionistischen oder pointilistischen Gemälde, sind Auge und Hirn dabei, die einzelnen Reize zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzusetzen. Und dieser aktive Vorgang ist lustvoll. Das Monotone und monokausale langweilt unser Auge und unser Hirn.  

 

Da die Autoren die scheinbar abge­hobenen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse direkt auf filmische Beispiele beziehen und an ihnen exemplifizieren, ist das Ganze gut nach voll­ziehbar. Auch wenn ich durchaus schon mal von Spiegelneuronen oder Top-Down- und Bottom-up-Informationsfluss gehört habe, so gab es doch eine ganze Reihe von weiteren inter­essanten neuen Bezügen zwischen Neurowissenschaft und Drehbuch­schreiben.  Vor allem wer­den einige als Paradigmen in den verschiedenen Manuals ge­handelte Rat­schläge genau hinterfragt und auf ihre Richtigkeit hin überprüft. Oft kommt es dabei zu Präzisierungen oder sogar Widersprüchen, wie zum Beispiel bei der Frage, wie wir es schaffen, dass sich der Zuschauer mit dem Protagonisten identifiziert oder auf welche verschiedenen ande­ren Art und Weisen eine tragfähige Verbindung geschaf­fen werden kann. Auch wenn diese Lektüre für mich ohne Frage ein Gewinn war, so konnte sie mei­nen Be­schluss, kei­ne Anleitungen für das Drehbuchschreiben mehr zu kaufen, nur vor­über­gehend  erschüttern.

 

Auf Neuerscheinungen werde ich nicht nur im Netz oder durch die Verlagsmitteilungen aufmerksam. Die Buchhandlung „Bücherbogen“ am Savignyplatz in Berlin ist spezialisiert auf Kunst,  Architektur, Theater und Film.  Sie gibt eine ausführliche monatliche Liste der Neuer­scheinungen Film, Fernsehen und Medien heraus. Diese bekomme ich durch einen Freund weitergeleitet. Das Kino mag in der Krise sein, die Publikationen über Film schei­nen es nicht zu sein. Noch immer liegt die Zahl der in dieser Liste aufgeführten Bücher jeden Monat über 100 Exemplaren, in der aktuellen Ausgabe sind es sogar mal wieder 140. Aber es fällt auf, dass die englisch- und französischsprachigen Publikationen dabei in der letzten Zeit rapide immer größeren Raum einnehmen. Und ein Großteil der deutschsprachi­gen Werke stammt aus dem rein wis­senschaftlichen Raum, widmet sich sehr speziellen Themen.

 

In der aktuellen Aus­gabe der Erscheinungsliste wird auch Jens Beckers Auseinander­setzung mit den Enneagramm angekündigt. Der Regisseur und Drehbuchautor unter­richtet als Pro­fessor an der Film­universität Babelsberg. Es gibt eine große Menge Literatur zum Enea­gramm, einem ursprünglich esoterischen Symbol der (Sufi) Zahlenmystik, das in den 1910er Jahren von Gurdjieff im Westen als ein Werkzeug zur Selbstentfaltung und Selbstentwicklung bekannt gemacht wurde.  Fünfzig Jahre später wurde es als ein Symbol für die Persönlichkeitsentwicklung auch wissenschaftlich be­nutzt. Schon einige Dramaturgen - unter anderem die ameri­kanische Autorin Laurie Hutzler - haben versucht, es für das Drehbuchschreiben fruchtbar zu machen. Laurie allerdings, ohne auf die uralte spirituelle Quelle aufmerksam zu machen. „Das Drehbuch-Tool: Charaktere und Struktur gestalten mit dem Enneagramm“ wurde von Jens bereits vor einiger Zeit für die Babelsber­ger Reihe „Texte zur dramaturgischen Praxis“ entwickelt und erscheint nun wohl mit größerer Auflage im Vistas Verlag.  Aus den neun verschie­denen Charak­ter­­profilen der uralten Typenlehre leitet der Autor „ein Instrument zur Entwicklung dynamischer Stoffe und Figuren“ ab, entnehme ich der Verlagsankündigung und mein Hinweis auf die Historie sagt nichts über den Gebrauchswert für Autoren, die dieses Modell noch nicht kennen.

 

Gwyneth Paltrow schreibt bereits ihr drittes Kochbuch wie der Hollywood Reporter zu berichten weiß.  „Kochen ist das neue Pop“  behauptet ein Berliner Stadtmagazin und der Tagesspiegel bringt jede Wochen eine Sonderbeilage von vier Seiten heraus nur mit Texten übers Kochen und Restaurantkritiken. Dagegen hat das kulinarische Kino von Dieter Kosslick auf der Berlinale nach seiner Verabschiedung als Festivalleiter schon wieder ausge­kocht. Die Liste der Neuerscheinungen avisiert dagegen „The Corleone Family Cookbook“ von Liliana Battle. Schon immer gab es Kochbücher aus der Film­branche wie „The Hollywood Cookbook“ oder das „I love Lucy Cookbook, Hollywood Hotplates“. 

 

Ich erwähne das nur, weil mir vor kurzem eine Freundin, die in einer Buchhandlung arbeitet, ein kurioses Geschenk mitbrachte: „Das DEFA- Film-Kochbuch“. Es ist im BuchVerlag für die Frau erschienen in einem bezaubernden - oder auch erschrecken­den, je nachdem wie man es sieht - sehr strikten sechziger Jahre Layout und wurde freundlich von der DEFA-Stiftung unterstützt.  Angesichts von „Kochen ist das neue Pop“ kann man sich über die Rezepte zu „Schnittchenplatte mit Käse, Wurst und  Fisch“ oder „Blutgeschwür“, einem Getränk, bei dem Eierlikör mit Cherry Brandy veredelt wird, oder einer „Kartoffel-Spinat-Pfanne“ natürlich leicht  lustig machen. Toast Hawaii im Westen war aber auch nicht gerade Haute Cuisine. Aber käme jemand heute auf die Idee, das Rezept in einem Buch zu verewigen? Mir zeugt das DEFA-Film-Kochbuch von einem an­scheinend immer noch anhaltenden nostalgisch ver­klärenden Blick auf die ehemalige DDR. Wenn mir von diesem kuriosen Geschenk etwas in Erinnerung bleibt, dann ist es das tolle Schwarz-Weiß-Portrait der jungen Corinna Harfouch aus dem Film „Der Tango­spieler“ von Roland Gräf.  Ihre blonden Locken quellen unter der dunklen Baskenmütze hervor, die mit dem Bildhintergrund verschwimmt. Eine Kleinigkeit neigt sie den Kopf, stützt ihn gegen die linke Hand. Um den Mund ein Lächeln, zugewandt und doch leicht distanziert. Exzellent ausgeleuchtet trifft ihr Blick in die Kamera direkt den Betrachter. Ein perfektes Starfoto.

 

Es gibt Autoren, die einen als Leser ein Leben lang begleiten. Deren Werk man durch die Zeit hindurch verfolgt und das für das eigene Leben wichtig wird. Es kann passieren, dass man dann die Gelegenheit bekommt, dem Autor in der Realität zu begegnen, den Menschen hinter dem Autor zu treffen und man ist begeistert, fühlt sich bestätigt in dem positiven Bild, das man sich von dem Schreibenden gemacht hat. Was man im Werk glaubt als Haltung , als menschliche Kontur, als Habitus oder Mentalität erkannt zu haben , wird auf das Schönste bestätigt. So ging es mir bei einer Lesung und Diskussion mit Richard Ford an einem Sonntagmorgen in der Berliner Schaubühne. Der Mensch dort auf der Theaterbühne war nahbar, offen. Auch mit Jean Baudrillard, den ich für eine Radiosendung interviewen konnte, erging es mir vor langer Zeit so. Genauso aber kann diese persönli­che Begegnung auch schief gehen, wie es für mich bei einem Auftritt von James Salter im Literaturhaus in der Fasanenstraße geschah. Zu militärisch streng, steif , förmlich und unbeugsam erschien mir der Autor da vorne am Pult, den ich so für seine sprachliche Be­weg­­lich­keit, für die Wendigkeit und Kunstfertigkeit seiner Prosa bewun­derte.  Dessen scharfer analytische Blick und dessen sezierende Analyse des von ihm eine Zeitlang ausgeübten Berufs des Drehbuchautors mich so beeindruckt hatte. Der Einfluss seines Schreibens auf mein Leben wurde dadurch allerdings nicht gemindert.

 

Ähnlich ging des mir bei John Berger. Seine Essays zur Bildinter­pretation und zur Foto­graphie hatten mich schon während des Studiums beeinflusst und wie in einer Schule des Sehens mein Filmverständnis stark geprägt. Seine Drehbücher für den Schweizer Regisseur Alain Tanner waren Meilensteine der Kinoerfahrung und auch seine Romane habe ich mit Gewinn gelesen, trotz ihrer manchmal etwas schweren, me­la­n­cholischen Sprache. Berger nahm die Perspektive der Ausgestoßenen, der Zu­kurz­gekommenen ein, er sprach und erzählte schon früh über die Zerstörung von Natur und Umwelt und der Bedeu­tung,  die dies für den Menschen hat. 1926 in London geboren, war Berger nicht nur Schriftsteller, Drehbuchautor, Essayist und Kunst­kritiker, sondern auch Maler und Zeichner. Bereits 1972 erhielt er den Booker Preis. Er lebte lange Zeit Jahre in einem abgelegenen Berg­dorf in der Haute Savoie, teilte das harte Leben der Bergler, beobach­tete den Wechsel der rauen Natur in den Jahres­zeiten. Schon die Titel wie „Von ihrer Hände Arbeit“ oder „Sauerde“ vermittelten einen Eindruck von seiner Sicht der Welt. Seine klare soziale Haltung erschien mir immer bewundernswert.

 

Seinen Auftritt bei einer Lesung fand ich allerdings  ent­täuschend. Ich mochte den impo­santen Löwenkopf, der mit seinen Falten und den ungebändigten Grauhaar auf den Innenseiten der Buchumschläge so kraftvoll und zugleich so fragil und sensibel wirkte. Bergers Er­scheinung an diesem Abend hatte aber für mich nicht nur etwas Widerspenstiges, sondern auch etwas Trotziges, Orthodoxes. Im Gespräch mit dem Pub­likum erschien er mir mit einem Mal wie ein starrer Ideologe,  wie ein Kommunist alter Schule. Es lag wahr­scheinlich auch an mir, die persönliche und emotionale Nähe, die ich zum Werk empfand, konnte ich zum leben­di­gen Autor und auch der ihn um­schwärmen­den Entou­rage in diesem Moment nicht entwickeln.  Mein Inter­esse an den Bücher und die Bewun­derung für den Autor blieb davon unberührt. Und wenn ich ein Buch wie „Begegnungen und Abschiede“ mit meisterlichen Essays „über Menschen und Bilder“ aus dem Regal  nehme, stoße auf ein Satz wie „Alles was er gesehen hat, vertiefte seinen Sinn für die Rätsel des Lebens. Für diese Rätsel findet er nur Teilantworten - jede Geschichte ist eine Antwort, aber jede Antwort, jede Geschichte wirft eine weitere Frage auf. So kommt er nie zum Ziel, und das hält seine Neugierde wach.“ So beschreibt Berger am Beispiel einer Bildbetrachtung die Viel­deu­tig­keit und Offenheit von Erfahrungen und hat mich sofort wieder gefesselt, hält mich als Leser wieder gefangen und an seiner Seite.

 

Berger starb zu Beginn des Jahres 2017. Sein letztes Buch mit Essays, kleinen Beobach­tungen, Skizzen und Geschichten heißt nach einem der Beiträge „Ein Geschenk für Rosa“. Der vom Hanser Verlag in der Reihe Akzente in einer sehr sorgfältigen französischen Bro­schur mit schönem gestrichenen Papier produzierte schmale Band enthält auch Reproduktionen von Bergers Zeichnungen und Bildern, die trotz des kleinen Formats absolut nichts von ihre Strahlkraft einbüßen.  Ein wahres Kleinod von Buch, das als Begleiter in die Jackentasche passt. Der Verlag bewirbt das Werk als Testament des Autors Berger. In dem Selbstporträt betitelten Text zu Beginn des Buches heißt es: „Ich schreibe seit über achtzig Jahren. Zuerst Briefe, dann Gedichte, Reden, Aufsätze und Bücher, nun diese Skizze. Für mich gehört Schreiben zum Leben; es hilft mir, einen Sinn zu entdecken und weiter zu machen. ... All die Jahre über hat mich eine Ahnung zum Schreiben getrieben, dass etwas erzählt werden muss, das, falls ich es nicht versuche, unerzählt bleiben wird.“

 

Ich habe mich gefragt, wie ich auf das Thema von der Diskrepanz in der Wahrnehmung von Werk und Autor gekommen bin? Es liegt daran, dass wir auf ein besonderes Buch vergeblich warten müssen.: Die Memoiren von Woody Allen. Die #me too Debatte hat auf das Verhältnis von Werk und Persona des Künstlers ein völlig neues Schlaglicht ge­worfen. Angeb­lich wurden dem Regisseur vor mehr als 10 Jahren vom Penguin Verlag drei Mil­lionen Dollar für seine Auto­biographie geboten. Das Gebot war Woody Allen da­mals zu gering. Jetzt liegt das Werk vor, wurde von den vier größten amerikanischen Verlagshäusern ab­gelehnt und fand keinen Käufer. Es sei toxisch mit Woody Allen zu­sammen­zuarbei­­ten und die finanziellen Risi­ken seien unkalkulierbar, wurde verlaut­bart.

 

Was dieses un­kalkulierbare Risiko bedeu­tet, wird klar, wenn man die Klage an­schaut, die Allen gegen Amazon angestrengt hat. 68 Millionen Dollar will er von dem Unternehmen erstreiten, weil es einen Vertrag über vier Filme gekündigt hat. Die Vor­würfe seiner Adoptivtochter Dylan Farrow über sexuellen Missbrauch, die aus dem Jahr 1992 her­rühren, schienen juristisch abgearbeitet und ausgesessen. Sie haben durch jüngste Aus­sagen und vor al­lem die aktuelle Debatte aber eine neue Dramatik entfaltet. Reihenweise distanzieren sich Stars von dem Regisseur, beteuern, nicht mehr mit dem inzwischen 83 Jährigen arbeiten zu wollen. Der Mann galt mal als großer Künstler, als Klassiker, als ein echter amerikanischer Autorenfilmer. Müssen wir nun mit Woody Allen Mitleid haben? Oder aber seine Filme meiden? Die neuen wie die alten? Er tourte in den letzten Jahren bereits durch europäische Hauptstädte, die ihm Produktionen ermöglichten und die Ergebnisse habe ich als eher durchwachsen erlebt. Jetzt ist an­geblich San Sebastian Schauplatz seines neuesten Films und die Dreharbeiten sollen schon begonnen haben. Nicht nur deshalb wird die Diskussion um das Verhältnis von Werk und Künstler, das ja nicht erst seit der #me too-Debatte relevant ist, weitergehen.

 

In diesen Tagen feiert der Verlag der Autoren sein 50-jähriges Bestehen. Ein Anlass, umzum Schluss noch „Herzstücke“ zu erwähnen, ein Buch vom heute 87-jährigen Gründer dieses einmaligen Verlagsmodells, Karl Heinz Braun. Seine Erinnerungen mischen Briefe mit Anekdoten, Diskussionen und Debatten.  Er beschreibt mit Enthusiasmus und Verve in einer leicht lesbaren Prosa eine Zeit, in der das Theater das Gewissen der Zeit war, als es politisch und sozial relevant war und Einfluss auf den gesellschaftlichen Diskurs hatte. Bei der Vorstellung des Buches in Berlin wurde er vom Moderator des Abends, Simon Strauß, zum Schluss gefragt, ob er denn für das aktuelle Theater die Hoffnung hege, es könnte vielleicht eines Tages diese alte Be­deu­tung wenigstens zum Teil wieder erlangen. Dafür jedoch sah Braun leider absolut keine Aussicht.

 

„Herzstücke“ ist in seiner Retrospektive und Geschichtsforschung sicher ein lesens­wertes Buch, besonders auch für die vielen Drehbuchautoren im Verlag der Autoren, die noch heute nach dem alten Genossenschaftsmodell organisiert sind:  Der Verlag der Autoren gehört den Autoren des Verlages. Ich erwähne das Buch in diesem Lesezeichen aber auch, um daraus zitieren zu können. Am Ende des fast 700 seitigen Werkes schreibt Karl Heinz Braun:

„Das Gedächtnis funktioniert nach meiner Erfahrung jedenfalls so: das, was ich nicht mehr brauche, vergisst es; das was angenehm zu erinnern ist, behält es. Und dann gibt es Vorgänge, die sich mit der Zeit verschieben. Bestimmte unvergessliche Details beziehen sich auf einmal auf andere Zusammenhänge. (...) So hat Gabriel Garcia Márquez wahr­scheinlich Recht, wenn er sagt, das Leben sei nicht das, was man gelebt hat, sondern woran man sich erinnert - um davon zu erzählen. In diesem Sinne ist alles , was in die­sem Buch steht, mit Vorsicht zu genießen.“

 

Und ich füge dem Zitat hinzu: Das gilt natürlich genauso für dieses Lesezeichen.

 

Die Kolumne LESEZEICHEN erscheint regelmäßig im VDD Journal.

Jochen Brunow ist Gründungs- und Ehrenmitglied des VDD.