16. August 2019
 

SCENARIOdigital - LESEZEICHEN. Ausgabe 5 der Kolumne von Jochen Brunow

Autor: Jochen Brunow 

„Lesezeichen“ so hieß eine der in jeder Ausgabe wiederkehrenden Rubriken in dem zwischen 2007 und 2016 in Buchform erschienenen Film- und Dreh­buch-Almanach Scenario. VDD-Gründungs und-Ehrenmitglied Jochen Brunow hat die Rubrik in Form einer Kolumne im VDD Journal wieder aufgenommen. Wir veröffentlichen hier die fünfte Ausgabe.

 

Was bedeutet es für DrehbuchautorInnen, wenn der, der erzählt, die Welt regiert? Das aktuelle Lesezeichen geht mit wissenschaftlicher und philosophischer Rückendeckung dieser Frage nach, streift den Standfotograf von Werner Herzog sowie dessen Gespräche mit prominenten Herzog-Wegbegleitern und würdigt den in diesem Jahr verstorbenen italienischen Bestseller-Autor Andrea Camillieri sowie dessen erfolgreichste Figur, Commis­sario Salvo Montalbano.

 

Die Ausstellung „Aufbruch ins Jetzt“ mit Fotografien der Protagonisten des Neuen Deutschen Films ist leider schon vor einer Weile in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste zu Ende gegangen. Trotzdem gibt es Grund - wie ich finde - auf dieses Unter­nehmen hinzuweisen. Und vielleicht finden sich in Frankfurt oder Berlin ja auch noch Kuratoren, die diese Ausstellung übernehmen wollen. Beat Presser,  der Standfotograf für Werner Herzog bei "Fitz­carral­do", "Cobra Verde" und "Invincible", hat während der letzten neun Jahre die Beteiligten aller Film-Gewerke ge­troffen und sie fotografiert. Wie inzwischen viele Fotographen, z.B. auch Herlinde Kölbl, hat Presser dabei mit ihnen auch Gespräche geführt. Diese sind in einem schönen Band zusammengefasst und der ist wegen dem Eigenengagement der Macher im Gegensatz zur Ausstellung verfügbar.

 

Aufgrund einer Verlagsabsage haben die Autoren der Ausstellung die Initiative ergriffen und die edition achsensprung  aus der Taufe gehoben. Sämtliche Produktions- und Ver­triebskosten des gleichnamigen Buchs begleichen sie aus eigener Tasche und versuchen sich neben ihrer Berufstätigkeit auch noch in diesen zusätzlichen, für sie neuen Prozes­sen zurechtzufinden. Die Auflage ist mit 300 Exemplaren daher auch niedrig gehalten. Zu bestellen bei edition achsensprung (s. genaue Bestellangeben am Ende dieses Textes).

 

Der Band enthält die nur leicht bearbeiteten Gespräche des Fotographen mit den von ihm Portraitierten und diese sind in ihrem Charakter anders als alle bisherigen  Interviews, die man von diesen Prominenten zu kennen meint. Sie sind privater, intimer, ohne dabei in einen unverbind­lichen Plauderton zu verfallen. Die Arbeitsbeziehungen untereinander und die privaten Bindungen werden deutlicher. Und wie diese beiden Ebenen in den Zeiten des Neuen Deutschen Films in einer starken Verbindung standen. Auf dieser Ebene hält das Buch ein paar schöne kleine Überraschungen parat.

 

Nicht alle Gespräche haben die gleiche Länge oder Relevanz. Das mag zeitliche Vorgaben geschuldet sein oder auch den unterschiedlichen privaten Beziehung des interviewen­den Fotographen zu seinen Protagonisten. Der Reigen der Gespräche entfaltet aber einen interessanten neuen Blick auf eine zurückliegende Periode des deutschen Filmschaffens.

 

Was dabei zum einen negativ auffällt und zum anderen auch wieder typisch ist für diese Phase der Filmherstellung, ist die Abwesenheit der Drehbuchautoren. Weder Max Zihl­mann noch Klaus Baedekerl , die in der Münchner Gruppe als Autoren eine nicht ganz unwichtige Rolle spielten, kommen vor, noch der später in das Drehbuchschreiben ein­steigende ehemalige Redakteur Peter Märtesheimer.  

 

Jeder Leser mag noch die eine oder anderen ihm interessant erscheinende Figur ver­missen, aber die Aus­wahl folgt dem privaten Ge­schmack des Fotographen, der zum anderem eben auch gera­de die gelöste Atmosphäre der Ge­spräche möglich machte. So entsteht nach all den vie­len Publikationen zum Thema Neuer Deutscher Film ein weite­res,  nicht uninteressantes Bild der Zeit des Aufbruchs ins Jetzt.

 

Schon Roland Barthes wusste es: „... die Erzählung beginnt mit der Geschichte der Mensch­­heit, nirgends gibt oder gab es jemals ein Volk ohne Erzählung, alle Klassen aller mensch­lichen Gruppen besitzen ihre Erzäh­lun­gen; häufig werden diese Erzählungen von Menschen unterschiedlicher, ja sogar entgegengesetzter Kultur gemeinsam geschätzt. Die Erzählung schert sich nicht um gute oder schlechte Literatur und ist damit einfach da, so wie das Leben.“ Und auch Jean Paul Sartre hat geschrieben: „ Der Mensch ist im­mer ein Geschichtenerzähler, er lebt umgeben von seinen eigenen Geschichten und den Geschichten seiner Mitmenschen. Er betrachtet alles, was ihm passiert, in Bezug auf diese Geschichten und er versucht, sein Leben zu leben, als würde er die Geschichten nacherzählen.“

 

Bedeutende Autoren und Schriftsteller haben die Wichtigkeit ihrer Tätigkeit schon früher erkannt und wollten sie natürlich  hervorheben. Die tatsächliche Bedeu­tung der Narration für die menschliche Evolution und das soziale Leben wurde dabei nicht wissenschaftlich festgehalten. Heutzutage befassen sich immer mehr Biologen, Anthropologen, Hirnforscher, Linguisten und Sozialwissen­schaftler mit der Bedeutung des Erzählens für den Men­schen. Werner Siefer hat nun in sei­nem Buch „Der Erzähl­instinkt“ die vielfälti­gen wis­senschaft­lichen Quellen und For­schun­gen zum homo nar­rans leichtverständlich zu­sam­mengefasst und nachvollziehbar geklärt, „warum das Gehirn in Geschichten“ denkt.

 

Am Beispiel eines französischen Kurzfilms über die Beziehung zwischen einem kleinen Jungen und einem roten Luftballon aus dem Jahr 1956, der sehr erfolgreich war und  auch einen Oscar gewann, erläutert er die intentionale Grundhaltung des Menschen. Sie ist eine der Grundlagen dafür, dass das Gehirn sich in Geschichten organisiert. Der rote Luftbal­lon bewegt sich in diesem Film immer in der Nähe des Jungen und schon bald nimmt der Zuschauer den unbelebten Gegenstand wie einen Freund des Jungen war, der ihn be­wacht und beschützt. Entsprechend trauert er, wenn am Ende ein paar Rowdys den Bal­lon zum Platzen bringen und nur Gummifetzen von ihm übrig bleiben.

 

Der US Philosoph Daniel Dennett erläutert die Eigenschaft dieser menschlichen Grund­haltung wie folgt: „Bei der intentionalen Grundhaltung handelt es sich um eine Strategie, das Verhalten einer Einheit (Person, Tier, Artefakt, was auch immer) zu inter­pretieren, indem man sie als einen rationalen Agenten behandelt, der in der Auswahl seiner Hand­lungen durch Berücksichtigung seiner `Einstellungen´ und `Wünsche´ geleitet ist. Die grundlegende Strategie dieser Grund­­haltung besteht darin, die fragliche Einheit als Agenten zu behandeln, um dessen Handlungen oder Bewegungsweisen vorzusagen und damit zu verstehen.“ Schon diese Grundhaltung unterscheidet uns von unseren nächsten Verwandten, den Menschen­affen.

 

Das konkrete Erzählen entstand dann als eine Folge des Lebens in immer größe­ren Gruppen und ist zugleich für dieses soziale Miteinander die unabdingbare Voraus­setzung. Erzählen mäßigt Aggressionen, baut Bindungen auf und hält so eine Gruppe zusammen.  Unsere Menschenaffen-Freunde kommen über Rudel von 20 Mitglieder kaum hinaus. Nur wer in der Lage ist, Geschich­ten zu erzählen, vermag größere Einhei­ten und ganze Gesellschaf­ten zusammen­zuhal­ten, Werkzeug­tra­ditionen aufzubauen und Zivilisationen hervorzu­bringen, deren Werte über Tausende von Jahren bestand haben, erklärt Siefer. Ein Sprichwort der Hopi-Indianer besagt, wer die Geschichte erzählt, regiert die Welt.

 

Siefer verweist als Grund, warum Erzählungen grundsätzlich nötig sind, um Mit­menschen zu verstehen, auf Büchner, der in Dantons Tod beklagt: „Der Schädel hat kein Fenster.“ Ein tiefer Blick in die Augen kann trügerisch sein, er eröffnet vielleicht eine kleine Ahnung davon, was ein Stück­chen weiter drinnen vor sich geht, kann aber auch total in die Irre führen. Was jemand mit dem Brustton der Überzeugung verbal erklärt, legt möglicherweise seine Gefühle, Absichten und Pläne offen. Worte können aber ge­nau­so gut Meinungen verbergen, andere vortäuschen oder vom Wesentlichen ab­lenken. Sie folgen einer Strategie, die das Gegenüber lernen muss zu erkennen. Siefer schreibt:

 

„Der Mensch befindet sich (...) in einem Zustand fort­währender sozialer Unsicherheit, seitdem er sich als kooperativer Brüter von der Affenlinie trennte und sich anschickte, große Gesellschaften und Zivilisationen zu bilden. In unübersichtlichen Situationen lie­fern erzählte Geschichten einen unverzichtbaren Kompass. Sie sind, wenn man so will, ein natürlicher Virenscanner im sozialen Mitein­ander.“

 

An anderer Stelle vergleicht Siefer das Erleben von Geschichten mit dem Fliegen im Simulator. Nur auf diese Weise lässt sich das Rüstzeug erwerben, eine kom­plexe Maschine wie ein Flugzeug zu steuern. Und nur über Geschichten lässt sich das soziale Leben in einer komplexen Gesellschaft von Menschen erlernen.

 

Wenn wir Drehbuchautoren uns gegenseitig die Wichtigkeit unserer Tätigkeit als Schrei­bende versichern, oder sie anderen deutlich machen wollen, so betonen wir immer am Anfang des ge­sam­ten Produktionsprozesses eines Films zu stehen. Das ist zum einen richtig, aber auch zu kurz gegriffen. Die Wichtigkeit unserer Arbeit ist in Wirklichkeit eine viel gewaltigere. Wir sind die wahren Hüter der Ge­schichte, der Erzählung, die der Film oder das Fernsehstück ist. Ich höre schon den Aufschrei und Protest der Regisseure und habe ihn in Diskussionen auch schon sehr schrill und schmerzhaft live zu hören be­kom­men, aber es führt kein Weg daran vorbei, die Autoren sind die Hüter der Geschich­te. Entwicklungen im Serienbereich haben dies ja auch inzwischen - unabhängig von der immer breiteren Akzeptanz dieser Aussage in Wissenschaft und Branche - bewiesen.

 

Aus dieser Position ergibt sich eine Verantwortung für das Erzählte und das wie des Erzählens. Wir müssen uns fragen, welche Rolle wir da bisher spielen? Der eine oder andre wird sagen, wir sind doch in der Unterhaltungsbranche, hängen wir die  Latte mal nicht zu hoch. Diesen Autoren würde Siefer erwidern, dass Erzählungen amüsant und lustvoll unterhaltend sind , also Spaß machen, sei nur ein sinnlicher Nebeneffekt. Denn wir lieben es, das zu tun, was biologisch richtig und gut für uns ist oder seit Millionen von Jahren war. Würden wir biologische Notwendigkeiten nicht auch lustvoll ausführen wollen, so hätte dies unmittelbar Nachteile.

 

Schauen wir uns die Welt an, so wie sie uns heute uns darstellt, dann sind die sozialen Defizite in der Kommunikation, die fehlende Empathie und fehlende Bereitschaft zum sinnvollen Diskurs und die gestiegene Gewaltbereitschaft im täglichen Umgang unübersehbar. Wir müssen uns zwangsläufig fragen, welchen Anteil das anscheinend so wichtige Geschich­tenerzählen, wie wir es heute praktizieren, zu diesem Zustand beigetragen hat. Und dabei geht es nicht um die schädlichen und schändlichen Lügengeschichten, die uns Donald Trump und Boris Johnson und andere auftischen, sondern unsere eigene Arbeit für Film und Fernsehen und Bücher.

 

Einer, der um die Verantwortung als Autor immer gewusst hat, war Andrea Camillieri. Der sizilianische Römer ist vor einigen Wochen gestorben. Sein Commis­sario Salvo Montalbano hat in den letzten 20 Jahren eine erstaunliche Karriere gemacht. Zwischen Buchdeckeln ermittelte der kauzige Freund guten Essens - er bevor­zugt Meerbarben -  in der kleinen überschau­baren Welt der sizilianischen Hafenstadt Vigata. Der Ort steht für die Geburtsstadt seines Autors Andrea Camillieri auf der Insel, Porto Empedocle. Die Nicht-Montalbano Romane des Autor erschienen im Rowohlt Verlag, die Krimireihe bei Bastei Lübbe.

 

Ich bin mit meiner Liebe zu dem unbestechlichen und Vorgesetzte hassen­den Montal­bano mit seiner ewig verlobten Fernbeziehung Livia Burlando nicht allein, die Bücher haben sich  Millionenfach verkauft und wurden in 20 Sprachen übersetzt. 34 Folgen a 90 Minuten hat die RAI verfilmt. Die Romane sind ebenso erfolgreich wie einfach gestrickt. Die Struktur ist immer gleich, wie die normalen Tages­abläufe des Commissarios,  jeweils 18 Kapitel mit jeweils 10 Seiten schreibt Camillieri , weil er überzeugt ist, 180 Seiten sind für einen Kriminalroman genug. In den gedruckten Ausgaben quälen die Verlage die Werke dann so eben über die 200-Seiten-Linie.

 

Man muss es mögen, das leicht Redundante, in Schleifen sich entwickelnde Schreiben Camillieris, dann verfällt man ihm hoffnungslos. Nun da der Autor tot ist, wird wohl auch Montalbano sterben. Camillieris Verlag hat mitgeteilt, dass der Autor noch zu Lebzeiten einen letzten Roman mit dem Commissario  verfasst hat, in dem auch Montalbano ster­ben wird. Das Buch sollte nach dem Willen des Autors erst nach seinem eigenen Tod erscheinen. Was nun in absehbarer Zeit geschehen wird. Wer ihn nicht längst kennt, es ist nie zu spät, sich mit Camillieri zu befassen, denn seine Karriere als Autor ist beispiel­los. 

 

Er war bis zum hohen Alter von 73 Jahren total erfolglos als Autor. Er hatte am Theater gear­beitet, inszeniert, war bei der RAI angestellt, hatte eine Familie durchgebracht, drei Töchtern großgezogen, seine Bücher jedoch wollte niemand kaufen. Aber er schrieb immer weiter, auch wenn die Werke oft sogar ungedruckt und ohne Verlag blieben.  Das änderte sich 1998 auf einen Schlag und Camillieri konnte sich diesem plötzlichen Um­schwung selbst sich erklären.  „Es waren die gleichen Romane, die ich seit 30 Jahren schreibe, ich habe kein Komma verändert und auch keinen Literaturpreis gewonnen.“ Auf einmal war er aus dem Nichts heraus ein Star, ein weltbekannter Bestseller Autor. Zeitweise standen acht Camillieri Werke gleichzeitig unter den ersten zehn der Besten­liste von „La Stampa“.  Er hat diese neue ungewohnte Rolle im öffentlichen Bewusstsein Italiens der letzten zwanzig Jahre im hohen Alter mit Ferve gespielt, sich politisch enga­giert. Er attackierte Korruption und Vetterwirtschaft, mafiöse Verstrickungen der Poli­tik,  warnte vor rechten Verführern wie Berlusconi. Bis kurz vor seinem Tod hat er sich immer wieder gegen Salvini  ausgesprochen und gegen seine Politik gewettert.

 

Ich bin gespannt auf das letzte Buch und neugierig wie sich Montal­bano verabschieden wird. Durch eine verirrte Kugel der Mafia? Oder aber die verschluck­te Gräte einer gold­gelb gebratenen Meerbarbe?

 

edition achsensprung

Zu bestellen bei edition achsensprung, Vera Pechel, Webergasse 1 , CH – 4058 Basel tel .:   +41 – (0)61 – 683 1430 ,  mobile:  +41 – (0)77 – 439 0145.

Ein Exemplar kostet 25,00 EURO, plus Porto.

 

Die Kolumne LESEZEICHEN erscheint regelmäßig im VDD Journal.

Jochen Brunow ist Gründungs- und Ehrenmitglied des VDD.