3. Dezember 2019
 

SCENARIOdigital - LESEZEICHEN. Ausgabe 6 der Kolumne von Jochen Brunow

Autor: Jochen Brunow 

„Lesezeichen“ so hieß eine der in jeder Ausgabe wiederkehrenden Rubriken in dem zwischen 2007 und 2016 in Buchform erschienenen Film- und Dreh­buch-Almanach Scenario. VDD-Gründungs und-Ehrenmitglied Jochen Brunow hat die Rubrik in Form einer Kolumne im VDD Journal wieder aufgenommen. Wir veröffentlichen hier die sechste Ausgabe.

 

Das aktuelle Lesezeichen widmet sich der Geschichte des Blurb und findet auf diesem Weg zu einem Roman des Schauspielers Christian Berkel. Um nichts weniger, als um die Frage, ob jede Geschichte falsch sei - und wer eigentlich der wahre Erzähler ist, geht es im Anschluss. Und damit um die Verteidigung der Erzählung im Sinne eines Er­kenntnis stiftenden Dramas und um die Verteidigung der aufklärerischen Funktion unserer Filmgeschichten in schwierigen politischen Zeiten.

 

Wir wünschen anregende, also: gute Unterhaltung.

 

Schon mal in einer Buchhandlung gestöbert und ein Buch gekauft, weil so viele tolle Menschen und berühmte Autoren auf der Rückseite begeisterte Testimonials abgegeben haben? Weil die Beurteilungen, Lobpreisungen und Komplimente so überzeugend wa­ren? Passiert mir andauernd.

 

Gerade habe ich gelernt, man nennt in der Bran­che die Sprüche von Kollegen oder Vorabrezensionen auf der Rück­seite des Schutzum­schlages Blurb. Lautsprachlich nicht gerade eine wertschätzende oder wohlmeinend klingende  Bezeichnung. Angeblich entstand das Wort nach einem 1906 erschiene­nen Werk von Gelett Burgess, einer wichtigen Figur in der litera­rischen Renaissance der San Francisco Bay Area Ende des 19. Jahrhunderts. Auf die Rückseite seines Buches „Are You a Bromide?“ (frei über­setzt: „Bist Du ein Langweiler?“) druckte der humoristisch schrei­bende Autor verkaufsfördernd das Foto einer sehr, sehr attrak­tiven jungen Frau. Er nannte sie schön alliterierend Belinda Blurb und legte ihr eine Lobhudelei auf sein Werk in den Mund.

 

So viel zur Herkunft der Bezeichnung Blurb. Die deutsche Übersetzung Waschzettel oder Klappentext ist auch nicht gerade erhebend.

 

Mit der Digitalisierung schwappte der Blurb natürlich auch ins Internet und die Seiten des Versandbuchhandels. Kann man dem Blurb trauen?

 

Auch ein Autor wie Daniel Kehlmann gerät mal in den Blurb. (Die heißbegehrten Film­rechte seines wunderbaren Romans «Tyll» sind übrigens gerade von Netflix erwor­ben worden. Show­runner und Produzenten für die geplante Serie sind Baran Bo Odar und Jantje Friese, die mit «Dark» die erste deutsche Netflix-Serie geschaffen haben.)

 

Zu dem Buch des Schau­spielers Christian Berkel „Der Apfelbaum“ schrieb Kehlmann:

 

»Wenn wieder einmal jemand fragt, wo es denn bleibt, das lebensgesättigte große Epos über deutsche Geschichte, dann ist von jetzt an die Antwort: hier ist es, Christian Berkel hat es geschrieben. Dieser Mann ist kein schreibender Schauspieler. Er ist Schriftsteller durch und durch. Und was für einer.«  Für mich ein Blurb mit Durchschlagskraft.

 

Es stand außer Frage, den Roman muss ich lesen. Ich wurde nicht enttäuscht, sondern in einer klaren, geschliffenen und feinen Prosa mitgenommen auf eine Reise durch eine von den politischen Geschehnissen des vergangenen Jahrhunderts vielfach gebrochene jüdische Familiengeschichte. Der Großvater ein anarchischer Nudist auf dem Monte Veritá, die Großmutter auf Seiten der Internationalen Brigaden in Spanien. Die Eltern verloren sich in der Nazizeit aus den Augen, um sich erst in den Fünfziger Jahren wieder in Berlin zu begegnen. In irgendeiner Rezension wurde sofort wieder geraunt, das Buch schreie nach einer Ver­filmung. Das ist in meinen Augen Unsinn, der Roman mit seiner Sprache und seiner Konstruktion steht erst einmal in seiner ganzen Herrlichkeit für sich. Das kann man meinetwegen durchaus als Blurb verwenden.

 

In der letzten Ausgabe diese Kolumne gab es den ausführ­lichen Hinweis auf das Buch „Der Erzählinstinkt“, in dem der Autor Werner Siefer die zentrale Notwendigkeit der Narration für die Evolution und das gesellschaftliche Miteinander anhand vieler For­schungsergebnisse unterschiedlicher Fachbereiche belegte. Ich habe in der Ver­gan­gen­heit in Scenario und andern Ortes aus der Position des Drehbuchautors heraus immer wie­der über die Be­deutung des Er­zählens für die Entwicklung der Menschheit und ihren sozialen Zusam­menhalt geschrie­ben. Gerne habe ich Sartre zitiert: „ Der Mensch ist im­mer ein Geschichtenerzähler, er lebt umgeben von seinen eigenen Geschichten und den Geschichten seiner Mitmen­schen. Er betrachtet alles, was ihm passiert, in Bezug auf diese Geschichten und er versucht, sein Leben zu leben, als würde er die Geschichten nacherzählen.“

 

Umso überraschter war ich nun, bei meiner aktuellen Lektüre auf einen renommierten Autor zu stoßen, der genau dieses Moment der Narration, der Ge­schichten und ihre Wir­kung auf den Menschen negativ beurteilt. Ja, der es für die größte Gefahr in unserer Zu­kunft hält und denkt, es müsse unbedingt überwunden werden, so hilfreich es in der Vergangenheit auch gewesen sein mag.

 

Nach seinem Bestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“, in dem er historisch herleitet, wie der Mensch zu einer größeren schöpferischen und zerstöre­rischen Fähig­keit ge­langte als jedes andere Lebewesen und zum Herrscher der Welt wurde, stellt uns Yuval Noah Harari in seinem letzten Werk „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ die Frage: Können wir die Welt, die wir erschaffen haben, überhaupt noch verstehen? Und helfen uns Geschichten bei diesem Weltverstehen, bei der Suche nach dem Sinn unseres Lebens?

 

„Wenn du noch irgend­wie die Kontrolle über dein persönliches Dasein und die Zukunft des Lebens be­halten willst, so musst du schneller sein als die Algorithmen, schneller als Amazon und die Regierung, und dich selbst erkennen, bevor sie es tun. Um schnell zu sein, solltest du nicht zu viel Gepäck mitnehmen. Lass alle deine Illusionen zurück. Sie wiegen schwer.“  Und Illusionen, das sind nach Harari vor allem Geschichten.

 

Geschichten seien unvollständig, behauptet Harari zu Recht. Doch wenn wir uns eine praktikable Identität schaffen und unserem Leben einen Sinn geben möchten, brauchen wir nicht wirklich eine vollständige Geschichte, die frei von blinden Flecken und inneren Widersprüchen ist. Damit sie unserem Leben Sinn gibt, muss eine Ge­schichte lediglich zwei Bedingungen erfüllen, postuliert der Autor.

 

Erstens muss sie uns irgendeine Rolle in der Geschichte selbst zuweisen. „Ähnlich wie berühmte Schau­spieler mögen Men­schen nur die Drehbücher, in denen für sie eine wichtige Rolle vorgesehen ist.“ Zweitens muss sich eine gute Geschichte zwar nicht bis ins Unendliche erstrecken, aber sie muss unsere Horizonte überschreiten. Die Geschichte verschafft uns dadurch eine Identität und gibt unserem Leben einen Sinn, indem sie uns in etwas einbettet, das größer ist als wir selbst.

 

Und Harari geht noch weiter. Jede Geschichte sei falsch, behauptet er, einfach deshalb, weil es eine Geschichte sei. Wir wissen heute, das Universum funktioniere schlicht nicht wie eine Erzäh­lung. Daher kann eine gute Geschichte uns also eine Rolle zuweisen, so­wie unsere Horizonte übersteigen und uns in etwas Größeres einbetten. Aber sie ist nicht notwendigerweise wahr. Eine Geschichte kann reine Fiktion sein und uns trotz­dem eine Identität verschaffen und uns das Gefühl vermitteln, unser Leben habe einen Sinn. Es sind vor allem religiöse, mythologische oder nationalistische Narrative, die er dafür als Beispiele anführt.  

 

Der Prozess der Selbsterkundung beginnt nach Harari mit ganz einfachen Dingen und wird fortschreitend immer schwieriger. Zunächst stellen wir fest, dass wir die Welt außerhalb von uns nicht kontrollieren können. Wir entscheiden nicht, wann es regnet. Dann entdecken wir, dass wir nicht kontrollieren können, was in unserem eigenen Körper geschieht. Wir haben keine Kontrolle über unseren Blutdruck. Als nächstes verstehen wir, dass wir noch nicht einmal unser Gehirn beherrschen. Wir sagen den Neuronen nicht, wann sie feuern sollen. Und schließlich sollten wir nach neurologischen Thesen erkennen, dass wir auch unsere Wünsche, oder selbst unsere Reaktionen auf diese Wünsche nicht bestim­men. Wenn wir das begreifen, könnte es uns nach Harari dabei helfen, mit Blick auf unsere Meinungen und unsere Gefühle weniger obsessiv zu sein und stärker auf andere Men­schen zu achten. Es kann auch dazu beitragen, die Wahrheit über uns selbst zu erkennen.

 

In seinem Werk gelangt Harari nach einer detaillierten Reise durch alle modernen wis­senschaftlichen Erkenntnisse, die letzten tech­nologischen Entwick­lungen, die Bedrohun­gen durch die digitalen Algorithmen und die „falschen“ Geschich­ten zu der Überzeugung:

 

In einer Welt, die überschwemmt wird mit bedeutungslosen Informationen, ist Klarheit Macht. Diese als einzelner wieder zu erlangen, gelingt  mit einer der ältesten Kultur­tech­niken, die Harari als einzige Möglich­keit der Ret­tung empfiehlt, die buddhistische Medi­tation. Er argumentiert, nur in der Meditation gelingt es uns, den Geist direkt zu beob­achten und uns selbst zu erkennen.

 

Harari schließt: „Doch Milliarden von uns können sich kaum den Luxus leisten, sich mit den drängenden Fragen der Gegenwart zu beschäftigen, weil wir Dringenderes zu er­ledigen haben. Leider gewährt die Geschichte keinen Rabatt. Wenn über die Zukunft der Menschheit in unserer Abwesenheit entschieden wird, weil wir zu sehr damit beschäf­tigt sind, unsere Kinder zu ernähren und mit Kleidung zu versorgen, werden wir und sie dennoch nicht von den Folgen verschont bleiben. Dieses Buch versorgt die Menschen nicht mit Kleidung oder Nahrung. Aber es kann helfen, die Dinge ein wenig klarer zu sehen, und damit das globale Spielfeld etwas einebnen. Wenn es auch nur ein paar mehr von uns in die Lage versetzt, sich an der Diskussion über die Zukunft unserer Spezies zu beteiligen, so hat es seine Aufgabe erfüllt.“

 

Nach der Lektüre fiel mir auf, dass Harari den Begriff „Geschichte“ benutzt, wie es aktu­ell so viele auf so inflationäre Weise tun, die ständig nach „neuen Narrativen“ rufen. Narrativen für Euro­pa, Narrativen für ein anderes Deutschland, oder die Narrative konstruieren für ein neues Parfüm oder Automodell. Diese Narrative sind vielleicht ähnlich gebaut wie Er­zäh­lungen, aber ihnen fehlt etwas: der Erzähler. Der individuelle Autor, der sich für diese Geschichte verbürgt, der Autor, der die Weltsicht dieser einen Geschichte mit seiner Person, seiner Erfahrung glaubwürdig bezeugt.  Nicht umsonst fragt die Literaturwissenschaft nach der Erzählperspektive.  „Wer spricht?“

 

So reifte bei mir die Erkenntnis, wie nötig es ist, sehr genau hinzuschauen: was ist „nur“ eine Ge­schichte und was eine Erzählung im Sinne eines Er­kenntnis stiftenden Dramas. Darüber geben die Beiträge von Keith Cunningham in Scenario sehr gut Auskunft. Und bei Harari selbst finden sich dann noch Hinweise auf zwei Filme, die genau beschreiben, was ge­schieht, wenn man sich den Algorithmen ergibt oder von ihnen überwältigt wird: „Matrix“ und „Truman Show“.

 

Es lohnt sich also weiter an eine aufklärerische Funktion unserer Filmgeschichten zu glauben, an dieser Funk­tion festzu­halten und sie in der aktuellen politischen Lage zu verteidigen.

 

Auf dem Bücherboard:

 

Daniel Kehlmann „Tyll“,  Rowohlt Verlag

Christian Berkel „Der Apfelbaum“, Ullstein Verlag

Werner Siefer „Der Erzählinstinkt“, Hanser Verlag

Yuval Noah Harari  „21 Lektionen für das 21. Jahrbundert“, C-H-Beck Verlag

 

Die Kolumne LESEZEICHEN erscheint regelmäßig im VDD Journal.

Jochen Brunow ist Gründungs- und Ehrenmitglied des VDD.