SCENARIOdigital. Unterwegs zu einer Geschichte. Ein Werkstattgespräch mit Bernd Lange
Das folgende Werstattgespräch erschien 2012 im Band SCENARIO 6 im Bertz + Fischer-Verlag als Publikation der Carl-Meyer Gesellschaft und gefördert vom BKM, hrsg. von Jochen Brunow. Unter dem Label SCENARIOdigital wird der VDD weitere Werkstattgespräche und Essays aus dem Drehbuch-Allmanach Scenario veröffentlichen - mit freundlicher Genehmigung des Bertz + Fischer Verlags.
Bernd Lange ist erfolgreicher Drehbuchautor für TV und Kino. Neben diversen Drehbüchern u. a. auch für die Reihen TATORT und Polizeiruf 110 ist die langjährige Zusammenarbeit mit dem Regisseur und Co-Autor Hans-Christian Schmid prägend für sein bisheriges Werk. Aus der Zusammenarbeit sind u. a. die Kino-Filme" Requiem", "Sturm" und "Was bleibt" hervorgegangen sowie die mit dem Deutschen Fernsehpreis 2017 ausgezeichnete Fernsehserie "Das Verschwinden". Auf Vorschlag des VDD war Bernd Lange seit 2017 auch aktiv als Experte für die Kommission für Drehbuch- und Produktionsförderung der FFA.
Im Werkstattgespräch erläutert Bernd Lange die Bedeutung seiner Kindheit in einem schwäbischen Dorf, eines Schlüssellochblicks im Film "Tanz der Vampire" sowie der Comic-Lektüren für seinen Werdegang und analysiert zusammen mit Jochen Brunow die Unterschiede im Schreiben für Fernsehen und Kino sowie sein Verhältnis zu den neuen Möglichkeiten des Digitalen im Film.
Im folgende Ausschnitt aus dem Werkstattgespräch von 2012 geht es um die Vermittlung der Kunst des Drehbuchschreibens als Dozent und damit auch um die wirksamten Methoden, eine Geschichte im Drehbuch zu strukturieren - in diesem Fall mit einer Matrix aus Protagonist – Antagonist und aus Milieu – Thema.
Inzwischen bist du selbst Dozent in Ludwigsburg. Wie ist der Unterricht im Vergleich zu damals?
Dramaturgie ist ja eine alte Wissenschaft, und daher kann man auf vieles zurückgreifen, worüber man reden kann: über Katharsis im Kino der Gegenwart, über Empathie und Mimesis und warum man als Zuschauer bei einer Szene emotional involviert ist, bei einer geringfügig veränderten jedoch nicht. Diese etwas tiefere Auseinandersetzung mit Dramaturgie jenseits von Syd Field war damals überhaupt nicht vorhanden. Als Franziska Buch und Christoph Fromm später die Drehbuchprofessuren übernahmen, hat sich das grundsätzlich geändert. Ich versuche mit den Studenten den Erfahrungsschatz zu teilen, den ich aus der eigenen Arbeit gewonnen habe. Ich merke, zwei Monate dort zu unterrichten laugt mich vollkommen aus, weil ich versuche, wie ein Fußballtrainer von der Seitenlinie auf die Mannschaft einzuwirken.
Der Prozess ist aufreibend. Man kann die Drehbücher nicht selber schreiben, man kann nur das Potenzial der Stoffe vermitteln, und das ist manchmal viel anstrengender. Manchmal empfinde ich es auch als schmerzhaft, weil jemand einen Stoff hat, dessen Potenzial wunderbar und groß ist, und dann beim Schreiben weit hinter den Möglichkeiten des Stoffes zurückbleibt. Auch in einer fortlaufenden Mentorenschaft kommt man nicht immer bis zu dem Punkt, der nötig wäre.
Zeit spielt dabei eine große Rolle. Drehbuchschreiben erfordert davon leider viel. Ich war immer neidisch auf schnelle Autoren wie Ingmar Bergman, der 30 Tage gebraucht hat, und dann wurde gedreht. In requiem und sturm sind jeweils drei Jahre Arbeit geflossen, weil
es mehrere Fassungen gab. Die ersten Entwürfe waren viel oberflächlicher. Wenn ich eine erste Fassung schreibe, gibt die ziemlich genau meinen Wissensstand wieder, ich kratze an der Oberfläche und suche noch. Bei der zweiten, dritten, vierten Fassung versucht man natürlich, in die Tiefe zu dringen, wird Ballast los, schnell sind ein paar Jahre ins Land gezogen. Auf der anderen Seite werden die meisten Geschichten dann doch leider zu schnell geschrieben und gedreht. Ein Romanautor braucht mehrere Jahre für einen Roman, darüber wundert sich niemand. Wenn ein Drehbuchautor sagt, ich habe zwei Jahre für ein Drehbuch gebraucht, wird schon komisch geguckt.
Auch wenn du im Studium nicht viel davon gelernt hast, wirst du inzwischen doch die eine oder andere Dramaturgie wahrgenommen haben. Gibt es da für dich Favoriten, Schwerpunkte, eine Schule oder Person, die dich nachhaltig beeinflusst hat?
Als es darum ging, ein erstes abendfüllendes Drehbuch zu schreiben, habe ich gemerkt, dass ich nicht in der Lage bin, 120 Seiten gedanklich zu kontrollieren, und dass ich für mich ein System brauche, mit dem ich die Geschichte in handhabbare Portionen einteilen kann. Ich arbeite mit einer persönlich angepassten Form des Acht-Sequenz-Systems. Wenn man mir das heute wegnähme, wäre ich verzweifelt, weil ich dann die Übersicht und die Ordnung verlieren würde. Auch wenn ich große, grundsätzliche Änderungen an einer Geschichte vornehme, kann ich dadurch immer schnell eine andere Struktur aufbauen. Aber wenn ich bei der Geschichte diese acht Teile nicht finde, wenn ich das Material nicht zuordnen kann, habe ich ein grundsätzliches Verständnisproblem mit dem Projekt, an dem ich arbeite. Das hört sich möglicherweise äußerlich an, es hat aber damit zu tun, dass ich mich immer frage, was ist der zentrale Konflikt, welche zwei Menschen haben in diesem Film ein Problem, und an welcher Stelle in den jeweiligen Abschnitten wird dieser Konflikt thematisiert oder am Ende eben auch gelöst.
Ich habe in einem Bericht über deinen Unterricht gelesen, du gehst nach einer Matrix vor – wobei ich nicht weiß, ob das ein Begriff ist, den du selbst verwendest. Diese Matrix besteht aus vier Aspekten einer Geschichte, aus Protagonist – Antagonist und aus Milieu – Thema, man muss nur einen Teil der Matrix verändern, um zu einer völlig neuen Geschichte zu kommen.
Wenn es darum geht, dramatisches Potenzial in einer Geschichte auszuloten, sind diese vier Aspekte für mich einfach die wichtigsten Stellschrauben. Wenn ich das Verhältnis zwischen Protagonist Antagonist in der Geschichte definieren kann, dann ist das für mich
als Autor eine große Erkenntnis. Wenn man zum Beispiel eine Mutter und ihre Tochter nimmt, wie in requiem, dann haben diese beiden die wichtigsten Szenen miteinander, und der grundsätzliche Antagonismus zwischen ihnen muss zum Tragen kommen. Hierin liegt auch Hoffnung und Furcht des Zuschauers. Alle Schlüsselmomente laufen zwischen Mutter und Tochter, es sind die wichtigen Entscheidungen im Lauf der Geschichte. Von »Michaela geht von zu Hause weg« bis zu »Michaelas Mutter fällt die Entscheidung, dass ihr Kind jetzt zu Hause bleibt«. Zwischen den beiden Punkten bewegt sich der ganze zweite Akt von requiem.
Das Milieu halte ich vielleicht sogar für den wichtigsten Punkt bei der Stoffwahl. Man muss sich fragen, worüber will ich eigentlich einen Film machen. Ich begreife Milieu nicht nur als Ort- und Zeitbestimmung, sondern auch als psychologische Dimension eines Ortes und einer Zeit. Was bedeutet es für die junge Frau in requiem, nach Tübingen zu gehen, wenn sie vom Land kommt? Ich verschaffe mir über das Milieu auch einen Zugang zur Psychologie und Gefühlswelt der Figur. Entweder ich kenne dieses Milieu wie bei requiem selbst, oder ich fange an zu recherchieren, wie bei sturm, wo es um das gesamte Milieu des internationalen Strafrechts geht, nicht nur um den Ort Den Haag oder den Gerichtssaal.
Es galt für Hans-Christian Schmid, mit dem ich das Buch geschrieben habe, und mich wirklich zu verstehen, was es für die vielen Beschäftigten, die dort ihr Glück suchen, bedeutet, für die UN zu arbeiten. Wenn man dieses Milieu durchdringt und begreift,
wie diese Menschen ticken, ist das ein ewiger Quell für Ideen.
Das Thema kommt – zumindest wenn ich schreibe – erst sehr viel später in die Geschichte, wahrscheinlich erst nach der ersten Drehbuchfassung. Dann trete ich zurück und begreife langsam, worum es überhaupt geht. Es ist für mich schwierig herauszufinden, wovon die Geschichte handelt, was für ein grundsätzlicher Wertekonflikt hinter der Handlung steckt. Dazu muss ich eine Geschichte erst einmal aufschreiben, erst im Spiegel der eigenen Arbeit wird mir dieser Teil richtig klar. Wenn ich es einmal eingekreist habe, kann ich es anwenden wie ein Werkzeug. Bei sturm ist das Thema eindeutig die Frage, ist man integer gegenüber einem Menschen oder gegenüber dem System, für das man arbeitet. Diese Frage zieht sich letztlich durch den gesamten Film, bis in die Nebenfiguren hinein.
Auch wenn der Begriff »Matrix« in diesem Zusammenhang nicht von dir stammt, kannst du zwischen den vier Begriffen Beziehungen, Abhängigkeiten benennen? Kannst du sagen, wie diese vier verschiedenen Kategorien für dich aufeinander einwirken?
Ich glaube, man muss wahrscheinlich wie in der Physik schauen, ob zwischen den Begriffen Energie zum Fließen kommt, sprich Konflikt stattfindet. Wenn das Verhältnis zwischen Protagonisten und Antagonisten annähernd konfliktfrei ist, dann kann offensichtlich auch keine Auseinandersetzung stattfinden, weil niemand um etwas ringt. Aber genauso ist es mit der Figur in ihrem Umfeld. Das Potenzial, das im Verhältnis zwischen einem Menschen und seinem Milieu steckt, wird oft nicht richtig wahrgenommen und in seiner Wirkung auf die Geschichte unterschätzt.
Ich finde oft den Zugang über Konfliktfelder, die entstehen, wenn Milieus aufeinanderprallen: studentisches Leben und Kleinbürgerlichkeit in requiem oder die Welt der Zeugin und die der Anklägerin in sturm. Manchmal sind es auch nur Nuancen, vielleicht die Unterschiedlichkeit zweier Brüder und ihrer Lebenswege, obwohl sie beide aus demselben Nest stammen.
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Das Werkstattgespräch in voller Länge finden Sie weiter unten im Anhang.
Wir danken unserem Gründungs- und Ehrenmitglied Jochen Brunow für seinen Einsatz für die Veröffentlichung sowie dem Verlag Bertz + Fischer für die freundliche Unterstützung!
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