1. April 2020
 

SCENARIOdigital - LESEZEICHEN. Ausgabe 7 der Kolumne von Jochen Brunow

Autor: Jochen Brunow 

„Lesezeichen“ so hieß eine der in jeder Ausgabe wiederkehrenden Rubriken in dem zwischen 2007 und 2016 in Buchform erschienenen Film- und Dreh­buch-Almanach Scenario. VDD-Gründungs und-Ehrenmitglied Jochen Brunow hat die Rubrik in Form einer Kolumne im VDD Journal wieder aufgenommen. Wir veröffentlichen hier die sechste Ausgabe.

In der siebten Ausgabe des Lesezeichens für SCENARIOdigital wirft Jochen Brunow einen Blick auf das auslösende Moment jeden Erzählens, hinterfragt die hohe Schlagzahl im Schaffen von Erfolgsautor Felix Huby, wirft ein Licht auf das schwierige Verhältnis von Regie und Drehbuch und findet dabei literarischen Beistand für eine These, die AutorInnen schon länger haben: dass nämlich in einem Film möglicherweise viel mehr von der Persönlichkeit des Autors als von der Regie steckt.

 

Vorbemerkung der Redaktion:

 

Die Veröffentlichung dieses Textes von Jochen Brunow hat eine besondere Geschichte. Jochen schickte das aktuelle Lesezeichen kühn und unerschrocken Ende Januar an die Geschäftsstelle, zu einer Zeit also, in der in jedem Jahr bei uns landunter ist, weil sämtliche Ressourcen durch den Jahresabschluss, die Vorbereitung der MV und den Empfang der DrehbuchautorInnen zu Beginn der Berlinale überstrapaziert sind. Unsere diesjährige MV war zudem in der Vorbereitungszeit geprägt von vielen von außen herangetragenen Irritationen, so dass die Zeit vor der Berlinale durchaus das Siegel „turbulent“ verdient hat.

 

Damals gab es aber noch die Perspektive, dass der Text schnellstmöglich nach der Berlinale-Welle seinen Weg an die Öffentlichkeit finden kann. Einen Ausblick auf Ruhe also. Der eine oder die andere hätte es vielleicht ahnen können – aber wirklich vorherzusehen war es nicht, was unmittelbar nach der Berlinale an corona-bedingter Entwicklungsdynamik auf uns alle und auch den Verband zukommen würde.

 

Während sich weiter die Nachrichten um uns herum überschlagen, nehmen wir uns jetzt den Moment, um das Lesezeichen endlich online zustellen.

 

Inhaltlich kann es mit seinen Reflexionen, die aus ruhiger und tiefer Betrachtung literarischer Werke schöpfen, auch ein Zeichen der Zuversicht setzen: in dem es uns an den Normalzustand kreativer Arbeit und gedanklicher Auseinandersetzung mit der Welt und mit dem Erzählen erinnert.

 

In diesem Sinne: besonderer Dank an Jochen Brunow für seine Geduld und sein kontinuierliches Schreiben für das VDD-Journal.

 

Jan Herchenröder

Geschäftsführung VDD

 

LESEZEICHEN 7

 

Vor kurzem habe ich aus unbedeutendem Anlass ein Buch wieder zur Hand genommen, das ich vor drei Jahren gelesen habe, Bodo Kirchhoffs Novelle „Widerfahrnis“. Kirchhoff ist nicht nur Romancier, er war Drehbuchautor von mindestens zehn Folgen der Kriminalfilmreihe mit der ersten weiblichen Kom­mis­sarin Hannelore Elsner, und er hat der Elsner „Mein letzter Film“ auf den Leib geschrieben. Gegen Ende der Novelle „Wiederfahrnis“ schreibt Kirchhoff über den Geruch einer frisch geschälten Orange und über das Erzählen, wie es anhebt mit ganz unscheinbaren, kleinen Erlebnissen, Dingen oder eben auch Gerüchen. Und ich dach­te, das wollte ich für die siebente Ausgabe der digitalen Lesezeichen einmal zum Auftakt zitieren. (Es muss ja nicht immer Prousts Ge­schmack einer Madeleine sein.)

 

„ Kein Erzähler hat gleich seinen Fuß in einer Geschichte, erst nach und nach; wenn aber alles erzählt ist und man noch einmal von vorne anfängt, kann man freilich tun, als hätte man gleich den Fuß darin gehabt, schon beim ersten Satz, nur ist es ein Mogeln und ver­wischt das Werden, das sich aus Zufällen am Wegrand des Erzählens ergibt, ganz nach dem Vorbild des Lebens. Auch dort geht dem Werden kein kühner Plan voraus und kein Tusch kündigt es an, stattdessen sind es oft Kleinigkeiten, die etwas anstoßen und einen voran­brin­gen, das aufgeschnappte Wort, der hingesagte Satz oder ein Geruch wie aus Kinder­tagen …“

 

Wer wahrscheinlich immer schnell den Fuß in eine Geschichte bekommen hat, ist Felix Huby. Bevor er einer der meistbeschäftigten Drehbuchautoren der Republik wurde, war er unter seinem bürgerlichen Namen Eberhard Hungerbühler Journalist beim Spiegel, berich­tete in den wild bewegten 70er Jahren aus Stuttgart. Er schrieb über die Verbrechen der Baader-Meinhof-Gruppe, berichtete über den gesamten Stammheim-Prozess. Der 82-jährige hat auch über diese Zeit und seine damaligen Erfah­run­gen geschrieben. Das Buch heißt „Spiegeljahre“ ist aber trotz des nüchtern dokumen­ta­risch klingenden Titels ein Roman. Auch ein weiterer Roman über seine harte Schule des Lokaljournalismus auf der Schwäbischen Alb während der Sechzigerjahre ist erschienen. „Spiegeljahre“ stellt sozusagen die Vollen­dung der autobiographischen Trilogie über Hubys Leben vor dem Dreh­buchschreiben dar, denn über seine Jugendzeit unmittelbar nach dem zweit­en Weltkrieg erschien bereits 2017 „Heimatjahre“.

 

Huby hat mit seinen Stücken, Serien und Tatorten den schwäbischen Dialekt und die schwä­b­i­sche Lebensart ins Fernsehen gebracht. Winfried Kretschmann, der grüne Minister­präsi­dent hat ihn dafür vor Kurzem in Anerkennung seiner Verdienste um Baden Württemberg mit dem Verdienstorden des Landes ausgezeichnet. (Vielleicht ist es auch für den VDD und seinen Vorstand an der Zeit, über eine Würdigung des Erfinders der Figur des Horst Schimanski und so vieler anderer langlebiger Reihen- und Serienhelden nachzu­denken. Es wurde schon lange kein neues Ehrenmitglied mehr ernannt.)

 

In seiner aktiven Zeit als äußerst vielschreibender Drehbuchautor - er hat neben Thea­ter­stücken, Romanen und Hörspielen mindestens 700 Drehbücher für Film und Fernsehen geschrieben - verbreiteten neidische Kollegen das Gerücht, Felix Huby würde sich eine Reihe junger Schreibknechte im Keller halten, anders könne sein enormer Ausstoß an Stof­fen nicht zustande kommen. Der Mexika­ner Nicolas Giacobone hat jetzt in einem Roman seinen Hel­den, einen Drehbuchautor, in einen Keller gesperrt. Der manisch brillante Regis­seur Santia­go entführt den renommierten Autor Pablo und sperrt ihn in seiner Villa in einen kargen, voll­kommen dunklen Raum. Keine Form der Ablenkung ist gestattet. Ein Meisterwerk, ein perfektes Dreh­buch soll schließlich unter diesen Bedingungen entstehen.

 

Nicolás Giacobone, geboren 1975 in Buenos Aires, schrieb die Drehbücher für Filme wie »Biutiful« und »Birdman«. Für Letzteren wurde er 2015 mit einem Golden Globe sowie dem Oscar in der Kategorie »Bestes Originaldrehbuch« ausgezeichnet. Er musste sich aber den Titel mit dem Regisseur Alejandro Innaritu und zwei weiteren Kollegen teilen. »Das ge­schwärz­te Notizbuch« ist sein erster Roman.

 

Inarritu ist nicht nur bekannt für seine tollen, mit der Erzählperspektive experimentierenden Filme wie „Amores Perros“ oder „Babel“, sondern auch für seine Fehde mit dem ehemals eng befreundeten Drehbuchautor Guillermo Arriaga. Und an diese musste ich denken, als ich die Ankündigung von „Das geschwärzte Notizbuch“ las. Nach­dem Inarritu und Arriaga es gemeinsam von Mexiko nach Hollywood geschafft hat­ten, stritten sie erbittert darum, wer der eigentliche Erfinder der non-linearen, diskontinuier­li­chen Erzählweise ihrer so erfolgreichen Werke sei. Lars-Olav Beier hat in dem Beitrag „Die Konstruktion des Schicksals“ für Scenario 2 über diesen Disput geschrieben. Siehe Text im Anhang. Er hatte vorher ein Interview mit Arriaga geführt, in dem dieser sagte:

 

„Ich glaube nicht an das Schicksal, ich bin Atheist. Es gibt keine ordnende Hand, die uns steuert. Auch ist das Leben keineswegs eine griechische Tragödie, in der die Figuren zwangs­läufig ihr Unglück heraufbeschwören. Das Universum liegt in uns selbst. Doch ich bin sicher, dass Sekundenbruchteile über unser Leben entscheiden. Wer im falschen Moment auf eine Kreuzung fährt, wird plötzlich von einem anderen Auto erfasst. Von Unfällen wie diesen erzählen meine Filme.“

 

Arriaga war immer sehr selbstbewusst und hat auf seinem besonderen Anteil an einem Projekt bestanden. Er hat die Dominanz oder den künstlerischen Vorrang der Regie nie anerkannt. „Ich bin der Ansicht, dass der Autor nicht für den Regisseur arbeitet, sondern für den Film. … Ein Film gehört nicht dem Regisseur. Der inszeniert ihn nur auf der Grundlage des Drehbuchs, und in dem steckt möglicherweise viel mehr von der Persönlichkeit des Autors als von seiner eigenen.“

 

Inarritu ging dieser Anspruch damals zu weit und er lud den Autor zur Premiere von „Babel“ auf den Filmfestspielen in Cannes einfach aus. Der Film gewann den Regiepreis. Bitter für Arriaga, der ein Jahr vorher auf dem Festival an der Croisette für den Film „The Three Burials of Melquiades Estrada“ den Preis für das beste Dreh­buch gewonnen hatte. Der Ver­such, anschließend eine eigene Regiekarriere zu starten, ist dem Romancier und Drehbuch­autor Arriaga nicht wirklich gelungen, während Inarritu mit Großproduktionen wie dem mit Oscars und Golden Globes überschütteten „The Revenant“ weiter reüssierte.

 

Mir schien es auf Grund der Konstellation von „Das geschwärzte Notizbuch“, als hätte Nicolas Giacobone bei „Birdman“ ähnliche Erfahrungen mit dem dominanten Regisseur Inarritu gemacht und würde diese in dem Roman verarbeiten. Entsprechend gespannt begann ich meine Lektüre.

 

Es ist ein (scheinbar) ungefilterter Gedankenstrom, in den man mit diesem Buch eintaucht. Der Drehbuchautor Pablo schreibt in seiner Gefangenschaft nicht nur Drehbücher, sondern er notiert und schreibt ununterbrochen. Dieser Gedankenstrom lese sich wie der Liveblogg aus einer Einzelzelle schrieb treffend der Rezensent des Tagesspiegels. Reflexionen über das Verhältnis Schreiben und Leben, subjektive Einschätzungen der Werke großer Literaten wie Borges, Beckett oder Joyce und großer Drehbuchautoren wie Shaffer, Sorkin oder Eric Roth, (die er Aristoteliker nennt) und natürlich auch berühmter Regisseure wie Fellini, Berg­mann oder Haneke fließen übergangslos in den Gedankenstrom und die zeitlich wild hin und her springende Handlung ein. Es bedarf einiger Aufmerksamkeit des Lesers, die verschie­denen Handlungsebenen zueinander in eine Chronologie und logische Abfolge zu bringen, aber der Text entfaltet zugleich auch einen Sog. Der höchst emotionale und am Ende mörde­risch ausge­hende Kampf um die kreative Verantwortung für den fertigen Film endet mit einem durchaus differenzierten Statement des Drehbuchautors:  

 

„Es reicht, Santiago! Glaube oder denke was du willst, du hast diese Drehbücher nicht geschrieben. Ich habe sie geschrieben, weder du noch Peter Schaffer noch Aristoteles. … Die Drehbücher stammen von uns beiden, von dir und von mir. Aber ich habe sie geschrie­ben. Ich habe jedes Wort ausgewählt. Ich habe jede Kopfzeile, jede Regieanweisung, jede Klammer und jeden Dialog ausgewählt. Eine Szene 2 Stunden lang zu diskutieren, ist etwas anderes als sie zu schreiben. Es ist Teil der Szene. Das heißt, diese Szene gehört zum Teil dir. Aber es ist etwas anderes, sie zu schreiben. Du verstehst nicht, was es bedeutet stun­den­lang vor einem leeren Blatt zu sitzen wie ein dummes Kind vor einem Gemälde von Miro, auf dem nichts zu sehen ist …“ Worauf der Regisseur nur erwidern kann, er habe den Film schon im Kopf gehabt, bevor der Drehbuchautor ihn geschrieben habe. Er habe ihm diesen Film gegeben, damit er ihn scheibt.

 

Eine gewisse Leidensfähigkeit ist für einen schreibenden Autor offensichtlich eine unbedingt notwendige Charaktereigenschaft. Dafür spricht auch eine andere Neuerscheinung, die ich noch kurz anzeigen möchte. Für Scenario 3 schrieb Peter Schneider das Journal eines Dreh­buchautors mit dem Titel „Zeitreisen“. Hauptgegenstand seiner Tagebuchnotizen war sein damaliger Kampf um die Verfilmung eines Drehbuchs über das Leben des Komponisten Vivaldi. Der Kino­stoff hat es nun nach einer wahrhaft langen Zeitreise zwischen zwei Buchdeckeln auf den literarischen Markt geschafft. Bei Kiepenheuer und Witsch erschein „Vivaldis Töchter“ und Schneider erzählt nun in der bei ihm üblichen klaren Prosa über den geweihten Priester und begnadeten Musikers im barocken Venedig und sein Mädchen­orchester. In die Fiktion lässt er als Erzähler auch immer wieder die Ergebnisse seiner jahrelangen Recherche einfließen. Das schöne deutsche Wort Lang-mut bekommt bei diesen Entwicklungszeiten eine ganz spezielle Bedeutung. Geduld, Ausdauer, Eigensinn und Beharrungsvermögen, aber auch Hartnäckig­keit und Unnachgiebigkeit sind für einen Autor ganz offensichtlich unverzichtbare Zurüstungen.

 

Auf dem Bücherboard:

 

Bodo Kirchhof: „Widerfahrnis“, Frankfurter Verlagsanstalt

 

Felix Huby: „Heimatjahre“, Fischer Verlag

Felix Huby: „Lehrjahre“, Klöpfer & Meyer

Felix Huby: „Spiegelzeit“, Klöpfer & Meyer

 

Nicolas Giacobone: „Das geschwärzte Notizbuch“, Heyne Encore

 

Peter Schneider: „Vivaldis Töchter“, Kiepenheuer und Witsch

 

Die Kolumne LESEZEICHEN erscheint regelmäßig im VDD Journal.

Jochen Brunow ist Gründungs- und Ehrenmitglied des VDD.

 

 

Für die Veröffentlichung des Textes von Lars-Olav Beier danken wir dem Verlag Bertz + Fischer für die freundliche Unterstützung!

http://www.bertz-fischer.de/

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