"Dem Volk auf die Maske schauen." Ein Zwischenruf zur aktuellen Lage von VDD-Vorstand Sebastian Andrae
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wer zum Dialogschreiben gerne mithört, was am Cafétisch nebenan oder beim Einkaufsbummel so geredet wird, hat zur Zeit schlechte Karten. Die Cafétische bleiben hochgestellt. Der Bummel ist einer surrealen Choreographie mit desinfizierten Drahtkörbchen gewichen. Zwar laufen vielerorts weiterhin gefühlt 80 Prozent der Passanten ohne Maske herum, „frei Schnauze“ wird aber fast nur noch über ein Thema geredet. Niemand muss raten, welches Wort am häufigsten fällt, wenn man mit anderthalb Metern Abstand an jemandem vorbei hechtet. Genau. Neigte der Deutsche, anders als z.B. die Bewohner Italiens, schon bisher nicht zur Tuchfühlung – gut gekleidet sein heißt in deutschen Innenstädten, mit dem SUV vorzufahren -, kann er seiner Neigung zur Distanziertheit nun politisch legitimiert frönen. Burka-Diskussionen sind jäh verstummt. Vielleicht taucht bald die erste Louis-Vuitton-Maske in den Schaufenstern auf dem Ku'damm und dem Jungfernstieg auf. Und womöglich auch bald wieder andere Themen ...
Zurückgeworfen auf die eigene Imagination, welche Geschichten das Publikum nach der Krise sehen will, müssen wir uns fragen: Was verändert sich gerade, über den Virus hinaus? Behalten die recht, die von einer neuen Welt fabulieren? Oder jene, die in der Trägheit der Masse das einzig gültige Gesetz sehen? Vielleicht wäre das ja auch eine tröstliche Erkenntnis: dass der Mensch sich allenfalls anderthalb Meter aus der Bahn werfen lässt, Panik nur temporär gesellschaftsfähig ist. Da wir Teil eines Ganzen sind, werden wir Autorinnen und Autoren mit offenen Augen und Ohren wahrnehmen, was unsere Zuschauer bewegt und darauf reagieren. Ob ein neuer „Decamerone“ dabei herausspringt oder Beruhigungspillen in 5 K, ob Fantasy als Fluchtpunkt noch stärkeren Zulauf erhält oder eine größere Bereitschaft zur filmischen Kontroverse – das können wir nicht entscheiden. Aber mitwirken an einem möglichst breiten Spektrum des Erzählens, das kann niemand besser als wir. Dafür brauchen wir jene „Zukunftsforscher“, die schon das Internet zur Eintagsfliege erklärt haben, allenfalls als funny Sidekick.
Kunst kommt auch von: die Rechnungen bezahlen zu können – was in dieser dem Profit nicht abgeneigten Branche oft absichtsvoll vergessen wird. Die materiellen Grundlagen in gefährdeter Zeit sicherzustellen, daran arbeitet der VDD. Wir freuen uns, dass unsere Partner in den Sendern unseren Vorstellungen unbürokratisch folgen und schnelle Hilfe bereitstellen. Das sind keine Almosen. Der Hunger nach Inhalten wird größer. Mehr Menschen denn je sehen unsere Filme und Serien, werden belustigt, unterhalten, getröstet, aufgebaut. Neue Anbieter steigern ihre Abonnentenzahlen. Die alten freuen sich über das wachsende Interesse an den Mediatheken. Wir sind „systemrelevant“.
Da dieses System aber dynamischer ist denn je, auch wenn alles gerade auf stand-by zu stehen scheint, drängen wir weiter auf notwendige Veränderungen. Nicht Gremien und Jurys und auch nicht Redaktionen sollen unsere Stoffe zufriedenstellen. Unsere Zuschauer sollen darin Leben erkennen. Nicht jeder Satz hinter dem Mundschutz ist überlieferungswürdig, und ganz sicher wartet die Welt nicht auf zahllose Corona-Komödien. Aber vielleicht wächst die Sensibilität für das, welche Erzählungen uns verbinden – anstatt den Abstand noch größer werden zu lassen.
Von Home-Office zu Home-Office grüßt
Sebastian Andrae
Geschäftsführender Vorstand VDD