10. Februar 2021
 

SCENARIOdigital. Alltägliche Nahrung. Aus Anlass des Todes von Jean-Claude Carrière

Am 8. Februar 2021 verstarb der große französische Drehbuchautor und Ehrenoskarpreisträger Jean-Claud Carrière, aus dessen Werken prägende Filme des Arthouse-Kinos hervorgegangen sind, wie u. a.  "Dieses obskure Objekt der Begierde" in der Regie von Luis Bunuel, "Die Blechtrommel" in der Regie von Volker Schlöndorf, "Die unerträgliche Leidenschaft des Seins" in der Regie von Philipp Kaufmann.

Carrières Schaffen legte den Grundstein für Filme so künstlerisch einflussreicher Regiepersönlichkeiten wie Miloš Forman, Louis Malle, Carlos Saura, Andrzej Wajda, Peter Brook oder Jean-Luc Godard.

Als Würdigung des herausragenden Drehautors veröffentlichen wir hier einen Essay von Gerhard Midding, der sich Carriere über eine Rezension von dessen 2013 erschienen Erzählband "Der Kreis der Lügner" annähert.

Der Text erschien 2015 im Band SCENARIO 9 im Bertz + Fischer-Verlag als Publikation der Carl-Meyer Gesellschaft und gefördert vom BKM, hrsg. von Jochen Brunow. Unter dem Label SCENARIOdigital veröffentlicht VDD Werkstattgespräche und Essays aus dem Drehbuch-Allmanach Scenario - mit freundlicher Genehmigung des Bertz + Fischer Verlags.

Auszüge:

Wenn sie (Anm. der Red.: die Phantasie) (...) eine klaffende Leerstelle blieb, wirkte sie weiterhin als erzählerisches Kraftfeld: Die offene Frage ist reicher als die Antwort.

Der Drehbuchautor Jean-Claude Carrière hat ein Faible dafür, Geschichten und Situationen in der Schwebe zu lassen. So bewahren sie ihre Kraft; andernfalls hätten sie sich mit dem Ende eines Films erledigt.

Seine Art des Erzählens ist nicht vormundschaftlich, sondern will Freiräume schaffen, in denen sich die Imagination des Zuschauers tummeln darf. Er liebt es, Zweifel zu säen und eine Vielzahl von Resonanzen zu ernten.

(...)

Dieses Moment der Aneignung und Verwandlung ist für Carrière von zentraler Bedeutung. Die Frage, wie man das Imaginäre einer Kultur einer anderen vermitteln kann, ist ein Impuls, der sich durch sein gesamtes Schaffen zieht.

(...)

Wenn Carrière den Erzähler als jemanden bezeichnet, der von anderswo kommt, ein »Händler der Metamorphosen« ist, beschreibt er damit ein Stück weit auch sich selbst. Das Anderswo ist eine zentrale Kategorie seiner Arbeit. Nicht von ungefähr gehören zu den prägenden, wichtigen Arbeitsbeziehungen die zu Regisseuren, die aus je eigenen Gründen im Exil lebten oder noch leben: Luis Buñuel, Peter Brook und Miloš Forman.

(...)

In seinen Schriften und in Interviews betont Carrière immer wieder, wie notwendig die Fremdperspektive für seine Drehbücher ist. Er wählt einen entfernten Blickwinkel, der dem Milieu, der Kultur angehört, in denen die Geschichte angesiedelt ist. Er will seine Fremdheit nicht tilgen, denn aus ihr entsteht eine Empfänglichkeit für bezeichnende Alltagsdetails, die dem Einheimischen nicht mehr auffallen. Diese Kunst des Abstands ist auch ein Spielfeld der Neugierde, des Sich-Versenkens in das Fremde oder vergangene Epochen.

Für THE UNBEARABLE LIGHTNESS OF BEING  etwa ist es konstituierend, dass er von einem französischen Drehbuchautor und einem amerikanischen Regisseur stammt, die ihren eigenen Blick auf den Prager Frühling und dessen Niederschlagung werfen. Diese Methode lässt sich an diversen Beispielen durchdeklinieren. Sie steht im Zeichen der Offenheit, begreift ihren Gegenstand als etwas, das nicht hermetisch verschlossen ist, sondern für Zuschauer jedweder Herkunft zugänglich.

Tatsächlich werden Carrières Filme in aller Welt verstanden und geschätzt.

 

Den Essay in voller Länge finden Sie weiter unten im Anhang.

Wir danken dem Autor Gerhard Midding sowie unserem Gründungs- und Ehrenmitglied Jochen Brunow für seinen Einsatz für die Veröffentlichung und dem Verlag Bertz + Fischer für die freundliche Unterstützung!

http://www.bertz-fischer.de/