SCENARIOdigital. LESEZEICHEN. Ausgabe 9 der Kolumne von Jochen Brunow
LESEZEICHEN 9
Lebenszeichen
Ich muss mich entschuldigen. Das Erscheinen des letzten Lesezeichens (es trug die schöne Nummer 8) liegt eine ganze Weile zurück. Genauer gesagt bis zum Beginn der ersten Ausgangssperre im vergangenen Jahr. Den einmal geplanten Rhythmus des Erscheinens der Kolumne konnte und wollte ich unter den Bedingungen der Pandemie nicht einhalten. Welche Lektüre ist schon unter den gegebenen gesellschaftlichen und privaten Situationen und der anschwellenden Kakophonie der Meinungen und Geschmäcker noch wirklich relevant? Mit Jan Herchenröder waren aber 10 Ausgaben der Lesezeichen vereinbart entsprechend der 10 Werkstattgespräche, die auch auf der Website zeitgleich veröffentlicht werden sollten. Ich habe neue Hoffnung, diese Verabredung doch noch einzuhalten. Und das hat nicht nur damit zu, dass die Pandemie sich, wie wir alle wissen oder doch wenigstens hoffen, ihrem schmählichen Ende zuneigt.
Wenn Charlie Kaufman, der geniale Drehbuchautor von „Being John Malkovic“ und „Adaptation“, wenn Charlie Kaufman der begnadete Regisseur von „Anomalisa“ und „Synecdoche New York“, wenn Charlie Kaufman, der für „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ einen Oscar gewann, wenn dieser Charlie Kaufman einen Roman schreibt, dann ist das ein guter Grund zur Hoffnung, dann kommt das einer Offenbarung gleich. Ich sage es lieber gleich zu Beginn, dieses Lesezeichen ist keine Rezension oder auch Kolumne, es ist nichts weiter als eine knallharte, auf die Essenz eingedampfte Hagiographie. „Ameisig“ ist ein 859 Seiten langes, episches Delirium, dick wie „Unendlicher Spaß“ von dem großen, late David Forster Wallace, aber unendlich viel lustiger. (Ich habe „Unendlicher Spaß“ nie zu Ende lesen können, obwohl es darin um Tennis geht. Ja. Ich spiele Tennis, aber nicht so gut wie DFW.)
„Ameisig“ steht diesmal ganz allein auf dem Bücherbord, es ist ein Werk, das Platz braucht und das Platz schafft, das alle anderen Bücher vom Bord fegt. Es ist das Buch zur Zeit, das Buch, das uns erlösen kann aus der Lähmung der Pandemie-Depression, aus dem Dauerstreit und dem Gekeife in den sozialen Medien und der tiefen Gespaltenheit der Gesellschaft.
Weil Charlie Kaufman alle möglichen Positionen und Perspektiven verkörpert mit seinem Ich, oder genauer mit seinen vielen „Ichs“. Weil er die Welt im Licht der Gendersterne sieht und das Leiden der Menschen am Gendern in seiner Persona verkörpert. Weil er den deutschen Schauspielern zeigt, was gute Satire ist und kann. Und weil, das ist die Hauptsache, das wahre Herz des Buches, weil er das Gequanteltsein des Lebens und auch des Films begriffen hat.
Den Quantencomputer gibt es schon, er arbeitet bereits, (ohne Scheiß) aber noch steht seine allgemeine Verbreitung als Kosumware erst bevor. Charlie Kaufman wirft schon einen Blick in die Zukunft, in der auch wir Normalverbraucher begriffen haben werden, was Quanten sind. Es ist für unser Leben von entscheidender Bedeutung, dass wir akzeptieren, sie sind wirklich und sie erzeugen Wirklichkeiten. Kaufman war schon immer seiner Zeit voraus, seine Filme stellten immer die Frage nach den Identitäten und nach dem oder den Anderen, die uns heute so umtreibt.
Zugegeben, zwischendurch läuft auch Kaufmans Gedankenmaschine hin und wieder leer. Oder auch heiß, weil sie total überdreht. Aber jeder Autor weiß, das muss sein, um den Schwung zu haben für ein Werk von 859 Seiten.
Was steht drin? Worum geht es?
Seien Sie doch nicht immer so neugierig. Es ist ein Buch großartiger Verweise, auf Lebende und auf Tote, auf welche, die existierten oder nicht existierten. Ein Buch über Höxchen und Stöxchen. Das führt auch mal in Sackgassen. Aber wer sagt, es gebe keine Sackgassen auf der Welt, der versteht das Leben nicht. Es gibt sogar zwei Filme über eine „Cul de sac“. Wobei der Film von Polanski nur deshalb der bekanntere ist, weil er in Berlin einen Goldenen Bären gewonnen hat, während kaum ein Filmfan Ramin Goudarzinejad und Mahshad Torkan kennt, die bei einem gleichnamigen Werk 2010 Regie führten. Dafür spielt bei Polanski natürlich auch die hinreisende Francoise Dorleac.
Im Internet haben sich bereits mehrere Gruppen zusammengefunden, um die diese unzählig vielen Verweise in „Ameisig“ zu dechiffrieren. Kaufman spielt mit den falsch geschriebenen Namen bekannter Celebrities und den richtigen unbekannterer Hollywood-Größen. Schließen Sie sich an, entschlüsseln Sie die Welt, lesen Sie das Buch und steigen Sie in den Ameisenhaufen. Seien Sie versichert, es kribbelt.
„Ameisig“ ist schließlich ein Buch, das ein Film sein will, der die Welt sein will, ein Buch das auf diesem Wege die Welt retten will. Dass der Film die äußere Wirklichkeit errettet, ein alter Hut, das hat schon Krakauer in seinem Werk „The Redemption of Physical Reality“ geschrieben, der Vorlage für Bob Marleys großartigen „Redemption Song“. Kaufman beweist, er rettet auch innere Welten, alle inneren Welten. Folglich die ganze Welt mit allem Drum und Dran.
Dazu muss natürlich erst einmal der Film selbst gerettet werden. Und, nicht zu glauben, kein Trick, es gelingt! Da stellt sich die Frage, ist Charlie Kaufman Gott? Er selbst würde das natürlich heftig bestreiten, aber nach ein paar Seiten Text wäre er sicher bereit zuzugeben, er habe manchmal auch schon daran gedacht, aber der Zweifel habe am Ende doch überwogen, wo er doch nicht einmal sicher ist, ob er Jude ist oder nicht.
Im Zusammenhang mit Gott wird natürlich immer nach dem Beweis gefragt. Nun, es gelingt Charlie Kaufman in seinem monumentalen Roman „Ameisig“ als ehemaliger Filmhistoriker und arbeitsloser Filmkritiker Rosenberg B. Rosenberger mit Leichtigkeit, die Frage zu lösen, die uns alle umtreibt unter dem Ansturm all der Mehrteiler, der Serien, der Bewegtbilder und des Contents der Streamer. Die Frage, die beantwortet werden muss, wenn man verstehen will, wie es weiter geht mit der Filmbranche. Die Frage lautet: Was ist ein Film? Damit Sie die Antwort Kaufbergers (pardon Kaufmans alter ego im Buch heißt Rosenberg B. (Balaam) Rosenberger) glauben, folgt hier ein nicht ganz kurzes Zitat aus dem Werk „Ameisig“. Das Buch entfaltet die Möglichkeiten des Epischen in größter Breite und schönster Blüte. Bei 859 Seiten Vorlage kann auch ein Zitat nicht mit einem einzigen Satz auskommen, das ist doch wohl für jedermann (und jede Frau, ohje) nachvollziehbar.
„Ein Film ist nicht nur das Bild auf der Leinwand, der Ton aus den Lautsprechern. Er ist die Übersetzung all dessen durch das Gehirn. Er ist das soziale Umfeld. Er ist das Jahr, in dem du ihn siehst, er ist dein Alter, der Zustand deiner Ehe. Er ist das, was auf dem Weg zum Kino passiert, das, was vermutlich hinterher passieren wird, er ist diejenigen, die links und rechts von dir sitzen. Er ist wie sie riechen. Er ist wer vor dir sitzt. Wer von hinten gegen deinen Sitz tritt oder auch nicht. Er ist deine Sorge um den Anruf des Arztes. Er ist, dass du mit jemandem im Bett warst. Oder auch nicht. Oder dass du gerade kurz davor bist. Oder weißt, dass du es nie wieder tun wirst. Er ist dein Neid gegenüber dem Filmemacher oder dem Paar, das vor dir knutscht. Er ist das Popcorn. Er ist die Schokoerdnüsse. Dass du auf Toilette musst. Das jemand ein stinkendes Thunfischsandwich isst. Hat er (sie, er) es hineingeschmuggelt? Es schein nicht fair, dass die Betrüger die Sandwiches kriegen und wir den Kürzeren ziehen. Er ist die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit. Die Szene, die dich die Augen verdrehen lässt. Er ist deine Kritik an der schauspielerischen Darstellung. Er ist, dass du dich zu erinnern versuchst, wo du den Schauspieler schon einmal gesehen hast.
Er ist deine Erwartung, was im Film als nächstes passieren wird. Er ist dein Stolz, wenn du richtig lagst. Er ist deine Überraschung, wenn der Filmmacher deine Erwartung unterläuft. Er ist das Leben, das du nur einmal leben kannst. Du bereitest dich auf ihn vor, aber er wird dich dennoch überraschen. Der Film ist vorbestimmt, wird dir aber erst im Laufe der Zeit enthüllt, Stück für Stück. Das erzeugt den Eindruck, dass er etwas Lebendiges ist, etwas, dessen Ausgang du beeinflussen kannst. Du rufst dem Schauspieler auf der Leinwand etwas zu. Du beißt die Zähne aufeinander, als würde das helfen. Und wenngleich der Film vorbestimmt ist, ist die Welt es nicht. Also kann der Film auch auf diese Weise verändert werden. Der Projektor könnte kaputtgehen. Vielleicht sitzt bei dieser Vorstellung jemand im Publikum, der besonders laut lacht. Vielleicht wird jemand um sich schießen. Diese Elemente des Zufalls sind auf den zufallslosen Film geschichtet. …
… dieses Plastik, dieses Licht, diese klackende Viertelsekunde in der Zeit, die ich gemeinsam und doch getrennt voneinander bereisen, zwei benachbarte Einsamkeiten. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Märtyrer“ ist „Zeuge“, und das erscheint mir angemessen. Ein Zuschauer ist ein Zeuge, ein Zeuge ist jemand, der Zeugnis ablegt.“
Niemand kann bestreiten, dass diese vorzüglich gequantelte Beschreibung dessen, was ein Film ist, von absoluter Vollkommenheit ist. Man kann nichts hinzufügen, aber, Vorsicht!, auch nichts wegnehmen. Nun da diese so vollkommene Definition des Films einmal in der Welt ist, besteht die nicht ganz unberechtigte Hoffnung, dass auch der deutsche Film einmal besser wird.
Das im Hanser Verlag erschienene Buch schafft es auch noch zu einer weiteren Sensation im Literaturbetrieb. Auf dem Buchrücken findet sich der erste Blurb, (Begriffsklärung siehe Lesezeichen 6) der vollkommen der Wahrheit entspricht. Es wird aus der Los Angeles Review of Books ohne Autorennennung zitiert:
„Kaufman bringt sich an jede formale Grenze, kompromisslos, trostlos und zerstörerisch, aber dennoch wunderbar.“
Was für den Leser nicht weniger bedeutet als, auch er muss kompromisslos bis an seine Grenze gehen, ehe sich das wahrhaft Wunderbare dieses Buches erschließt. Am Ende schreibt Kaufman nur noch drei Worte: (Ich zitiere ein letztes Mal.)
„Ich schlage auf.“
Und ich frage mich, meint Kaufman das abrupte Ende eines seiner vielen Stürze durch Erinnerung und Zeit in ein schwarzes Loch? Oder meint er ein Buch, vielleicht sogar das Buch, das wir gerade gelesen haben? Oder spielt er Tennis und beginnt das Spiel wie sein Kumpel im Geiste David Forster Wallace?
Auch wenn ich mich eher als Serve-and-Volley-Spieler verstehe, (wie schon der werte Kollege und international ausgewiesene Tennisexperte H. Schmige in der auflagenstarken Publikation „Wir über uns“ geschrieben hat):
Ich retourniere.
Auf dem Bücherbord:
"Ameisig" von Charlie Kaufmann, ins Deutsche übersetzt von Stephan Kleiner, Hanser, 2021
Die Kolumne LESEZEICHEN erscheint regelmäßig im VDD Journal.
Jochen Brunow ist Gründungs- und Ehrenmitglied des VDD.