23. Dezember 2021
 

SCENARIOdigital. Sprechende Bilder, Sichtbare Worte. Ein Werkstattgespräch mit Jochen Brunow.

Autor: Jochen Brunow 

Das folgende Werkstattgespräch erschien 2016 im Band SCENARIO 10 im Bertz + Fischer-Verlag als Publikation der Carl-Meyer Gesellschaft und gefördert vom BKM, hrsg. von Jochen Brunow. Unter dem Label SCENARIOdigital veröffentlicht der VDD Werkstattgespräche und Essays aus dem Drehbuch-Allmanach Scenario - mit freundlicher Genehmigung des Bertz + Fischer Verlags.

Dieses Werkstattgespräch bildet den Abschluss der Reihe. In ihm kommt Jochen Brunow, Gründungs- und Ehrenmitglied des VDD und Herausgeber der Scenario-Reihe, persönlich zu Wort und reflektiert die Entstehungsgeschichte von Scenario sowie die Techniken des Drehbuchschreiben und der Entwicklung von Figuren.

Im letzten Werkstattgespräch interviewten die Autoren Andreas Resch (VDD) und Christoph Callenberg Jochen Brunow, beides ehemalige Studenten von ihm in seiner Zeit an der Drehbuchakademie der dffb. Beide sind inzwischen gestandene Autoren. Andreas Resch hat in diesem Jahr trotz Corona Festivals als Autor/Regisseur mit seinem selbstproduzierten Thriller „Marlene“ Premiere gehabt, Christoph Callenberg ist vielbeschäftigter Serienautor.

Im Folgenden finden Sie einen Ausschnitt aus dem Werkstattgespräch:

 

Resch: Mit dieser Ausgabe wird der Film- und Drehbuchalmanach zwei- stellig. Wie war das vor zehn Jahren? Wie kam es zu der Idee für diese Publikation?

Je mehr Manuals und Anleitungen zum Drehbuchschreiben erschienen, desto häufiger hatte ich den Impuls, dieser How-to-do-Literatur eine eigene Veröffentlichung entgegenzusetzen. Wie ein solches Buch konkret aussehen könnte, blieb lange diffus und vage, bis mir irgendwann klar geworden ist: Ich möchte über das Erzählen, das filmische Erzählen selbst, erzählen und ein Forum schaffen für Essays von Au- toren für Autoren und am Film Interessierte. Es sollten keine normativen Ästhetiken oder Doktrinen verkündet werden, so wie sie alle paar Jahre erneut durchs Dorf getrieben werden, sondern die bestehenden sollten untersucht und durchleuchtet werden.

 

Resch: Wie kam es zu der Unterteilung des Jahrbuches in Kategorien wie zum Beispiel Backstory, in der über die Geschichte des Drehbuchs nachgedacht wird?

 

Viele Entwicklungen der Vergangenheit sind aus dem kollektiven Gedächtnis der Autoren verschwunden und wiederholen sich daher auf unheilvolle Weise. Ich denke, wir können aus der Vergangenheit und der Geschichte des Drehbuchs noch immer viel lernen. Aber im Mittelpunkt stand für mich der Wunsch, Autoren sich selber äußern zu lassen über ihre speziellen Arbeitsweisen.

(…)

Resch: Was bringt mir eine unfassbare Backstory zu einer Figur, wenn die Backstory für die Erzählung keine Relevanz hat? Was bedeutet es für dich, eine Figur oder einen Charakter in allen Aspekten zu entwickeln? Schon in der Filmschule bekommt man unterschiedliche Ansätze vermittelt. Das eine Extrem ist, zu einer Figur alles zu wissen, was ihr je geschehen ist. So gehen Schauspieler oft vor, habe ich festgestellt. Gleichzeitig ist mir auch der Gegenentwurf begegnet: Ich muss nur das relevante Dilemma kennen, in dem diese Figur steckt. Wie entscheidet man, was man über eine Figur wissen muss?

 

Ich glaube, dass das individuell sehr unterschiedlich ist. Ich habe Autorenkollegen kennengelernt, die vorgehen wie ein Geheimdienstmitarbeiter, der einen Spion in ein unbekanntes Land schickt. Dann muss man diesem Helden alles mitgeben, der braucht also nicht nur einen falschen Ausweis und eine falsche Sozialversicherungsnummer und einen Führerschein, sondern der muss über alle Dinge Bescheid wissen, die ihm in diesem fremden Land – in der Geschichte, die entstehen soll – begegnen könnten.

Das heißt, man wird ihn fragen: Wer ist dein Vater, wer ist deine Mutter? Man wird schauen, wie ist seine Schulausbildung? Er muss entsprechend dieser sprechen und reagieren. Er hat eine bestimmte sexuelle Entwicklung, eine sexuelle Präferenz, die deutlich wird. Er ist in irgendeiner Weise spirituell oder nicht, hat eine Religion, eine Überzeugung. Wie denkt er politisch? Mit all diesen Dingen – man nennt das eine Legende – muss man einen Spion ausstatten, damit er nicht in die Falle tappt im fremden Land. Das ist die eine Methode, zu der das Konzept der backstory wound passt. Da geht es um die Traumata, die diese Person früher möglicherweise erlebt hat. Das Gegenmodell, das genauso gut funktionieren kann, ist vielleicht nicht ganz so reduziert, wie du es beschrieben hast.

Meiner Ansicht nach muss der Autor wissen, was ist die größte Stärke einer Figur und was ist – daraus resultierend – auch ihre größte Schwäche. Wenn man das weiß, hat man die generelle Linie, auf der sich diese Figur bewegen wird. Wenn sie abenteuerlustig ist und leicht Grenzen überschreitet, wird sie Schwierigkeiten haben, Nähe auszuhalten. Das sind Dinge, die einander bedingen und die wir aus unserem Leben als Dynamik kennen und bewusst oder unbewusst wahrnehmen.

 

Resch: Muss in jedem kleinen Korn bereits alles drinstecken, kann man auf diese Weise einen plausiblen Charakter formen? Oder muss es nicht immer auch eine Abweichung geben, einen Rest Nicht-Erklärbares, braucht eine Figur ein Geheimnis?

 

Wenn alles nicht nur erklärbar, sondern auch offensichtlich ist, dann wird sich unweigerlich das Gefühl von Mechanik einstellen. Wir sind keine one string characters. Das ist ein Begriff, den die Amerikaner für kurzzeitig auftauchende Personen haben, die eben nur ein Charakteristikum vorweisen. Jeder Mensch ist vielschichtig und ist auch in sich widersprüchlich. Möglicherweise sind es gerade die Situationen, bei denen sich jemand in Widersprüche verstrickt, in denen man Empathie mit ihm entwickelt, weil wir wissen, dass wir selbst auch nicht immer nur einer Sache konsequent folgen und unsere Werte manchmal verraten um unserer Ambitionen willen.

 

Resch: Wie mit Figuren und Charakteren umgegangen wird, scheint mir von entscheidender Bedeutung, um einen Drehbuch Leben einzuhauchen. Es gibt Autoren – auch in den vorherigen Werkstattgesprächen –, die so weit gehen zu sagen: Die Figuren sprechen mit mir.

 

Ab einem bestimmten Punkt in der Geschichte sind diese Autoren so eng mit den Figuren verbunden, dass diese ein Eigenleben entfalten, dass sie anfangen, sich zu wehren, wenn von ihnen schreibend etwas verlangt wird – möglicherweise weil es für den Plot notwendig oder wichtig erscheint –, und sie sagen dann: »Nein, das mache ich nicht, das bin ich doch nicht, so verhalte ich mich in dieser Situation nicht.« So weit geht es bei mir nicht. Aber ich habe ein Empfinden dafür, wenn eine Figur bricht. Wenn man das, was man der Figur mitgegeben hat, verrät, um eine bestimmte Wendung in der Handlung zu erreichen. Man denkt, das ist jetzt wichtig, dass sich die Aktionen in diese Richtung bewegen, und die Figur verweigert sich dem, was man ihr da zugedacht hat. Bei Autoren, die mit den Figuren reden, ist der Ausgangspunkt der generellen Stoffentwicklung auch oft die Vorstellung von einer Figur. Bei mir ist es oft eher ein gesellschaftliches Thema, ein Problem, das mich selbst beschäftigt und umtreibt und das ich dann mit einer Figur konfrontiere.

 

Callenberg: Ich finde es schwierig, von einem Thema auszugehen und die Figuren trotzdem ein Leben entwickeln zu lassen. In guten Filmen habe ich das Gefühl, auch wenn eine Szene zu Ende ist, findet jenseits von ihr noch weiter ein Leben statt.

 

Wenn Figuren in Literatur oder Film sehr stark sind, existieren sie außerhalb des Werkes, in dem sie vorkommen. Jeder weiß, wer Don Quijote ist oder Dirty Harry, Hamlet oder James Bond. Von Don Quijote hat man sogar eine visuelle Vorstellung, wenn man das Original nicht gelesen hat, denn er ist aufgrund der sehr anschaulichen bildlichen Beschreibung seiner Person gemalt worden, von Picasso und anderen großen Künstlern. Andere, auch sehr viel trivialere Figuren wie James Bond treten aus der Enge des einzelnen Werks heraus und werden zu einem Allgemeingut.

Das gelingt nur, wenn sie neben ihrer persönlichen Formung eine Sache berühren, die universell ist. Jemand liest Material aus einer anderen Zeit und versetzt sich in diese so intensiv, dass er aus der Gegenwart, in der er lebt, herausfällt. Ersteres ist bei Cervantes die Zeit der Ritterromane, Letzteres die Zeit, in der Don Quijote tatsächlich lebt. Und dieses Phänomen, aufgrund von Lektüre, aufgrund von rückwärtsgewandten Werten, die man gegen alle Widerstände der Gegenwart hochhält, aus seiner eigenen Zeit zu fallen, das ist ein menschliches Verhalten, das es zu allen geschichtlichen Perioden gab und auch in Zukunft geben wird. Deshalb wird diese Figur ewig weiterleben. Dazu kommt bei Don Quijote eine Bilderfindung wie der Kampf mit den Windmühlen, der sprichwörtlich geworden ist. Bei einer moderneren Figur wie Oskar Matzerath ist es sein Schrei und seine Trommel, die ihn unsterblich machen.

(...)

 

Das Werkstattgespräch in voller Länge finden Sie weiter unten im Anhang.

Wir danken unserem Gründungs- und Ehrenmitglied Jochen Brunow für seinen Einsatz für die Veröffentlichung sowie dem Verlag Bertz + Fischer für die freundliche Unterstützung!

http://www.bertz-fischer.de/

 

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